Bundesverfassungsgericht stellt fest: Regelungen in Hessen und Hamburg zur automatisierten Datenanalyse durch die Polizei sind verfassungswidrig
Mit Urteilen vom 16.02.2023 (Aktenzeichen: 1 BvR 1547/19, 1 BvR 2634/20) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass § 25a Abs. 1 Alt. 1 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) und § 49 Abs. 1 Alt. 1 des Hamburgischen Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei (HmbPolDVG) verfassungswidrig sind. Sie ermächtigen die Polizei, gespeicherte personenbezogene Daten mittels automatisierter Anwendung im Rahmen einer Datenanalyse (Hessen) oder einer Datenauswertung (Hamburg) weiter zu verarbeiten. Das BVerfG bewertet dies wie folgt: „Die Vorschriften verstoßen gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in seiner Ausprägung als informationelle Selbstbestimmung, weil sie keine ausreichende Eingriffsschwelle enthalten. Sie ermöglichen eine Weiterverarbeitung gespeicherter Datenbestände mittels einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung in begründeten Einzelfällen, wenn dies zur vorbeugenden Bekämpfung bestimmter Straftaten erforderlich ist. Dieser Eingriffsanlass bleibt angesichts der besonders daten- und methodenoffen formulierten Befugnisse weit hinter der wegen des konkreten Eingriffsgewichts verfassungsrechtlich gebotenen Schwelle einer konkretisierten Gefahr zurück.“
Zum Sachverhalt stellt das BVerfG u. a. fest: „Die beiden weitgehend gleichlautenden Regelungen in § 25a Abs. 1 HSOG und in § 49 Abs. 1 HmbPolDVG schaffen eine spezielle Rechtsgrundlage dafür, bisher unverbundene, automatisierte Dateien und Datenquellen in Analyseplattformen zu vernetzen und die vorhandenen Datenbestände durch Suchfunktionen systematisch zu erschließen… In Hessen wird von den Befugnissen des § 25a HSOG jährlich tausendfach über die Analyseplattform ‚hessenDATA‘ Gebrauch gemacht… Werden gespeicherte Datenbestände mittels einer automatisierten Anwendung zur Datenanalyse oder -auswertung verarbeitet, greift dies in die informationelle Selbstbestimmung aller ein, deren Daten bei diesem Vorgang personenbezogen Verwendung finden. Ein Grundrechtseingriff liegt hier nicht nur in der weiteren Verwendung vormals getrennter Daten, sondern darüber hinaus in der Erlangung besonders grundrechtsrelevanten neuen Wissens, das durch die automatisierte Datenauswertung oder -analyse geschaffen werden kann…“
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. (GFF), die die Verfassungsbeschwerde rechtlich, publizistisch und finanziell unterstützt hat, erklärt zum Urteil des BverfG: „Bijan Moini, Leiter des Legal Teams der GFF und Prozessbevollmächtigter, betont die weitreichende Bedeutung der heutigen Entscheidung aus Karlsruhe: ‚Das Bundesverfassungsgericht hat heute der Polizei den ungehinderten Blick in die Glaskugel untersagt und strenge Vorgaben für den Einsatz von intelligenter Software in der Polizeiarbeit formuliert. Das war wichtig, weil die Automatisierung von Polizeiarbeit gerade erst begonnen hat.‘ Mit den Verfassungsbeschwerden griff die GFF unter anderem an, dass die Rechtsgrundlagen in Hessen und Hamburg völlig unklar lassen, aus welchen Quellen, mit welcher Datenmenge und zu welchem Zweck die Polizei die Befugnis zum Data Mining nutzen darf. ‚Die Klage der Gesellschaft für Freiheitsrechte hat das Risiko deutlich reduziert, dass unbescholtene Bürgerinnen und Bürger ins Visier der Polizei geraten. Unsere strategische Prozessführung wirkt‘, so Moini. ‚Dieses Urteil strahlt in die ganze Republik aus. Denn viele andere Bundesländer und der Bund arbeiten darauf hin, vergleichbare technische Möglichkeiten einsetzen zu können – oder tun es sogar bereits, wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen.‘“
Die GFF erhob die Verfassungsbeschwerden – bezogen auf Hessen – gemeinsam mit der Humanistischen Union, der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main, dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, sowie – bezogen auf Hamburg – mit den Kritischen Jurastudierenden Hamburg, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, dem AStA der Universität Hamburg und der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju).
Das Urteil ist nach der Entscheidung des BVerfG zum Polizeigesetz Mecklenburg-Vorpommern vom 09.12.2022 (Aktenzeichen: 1 BvR 1345/21) der zweite Erfolg der GFF innerhalb weniger Wochen gegen die polizeigesetzlichen Novellen der Bundesländer aus den letzten Jahren.
Quelle: Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts und der Gesellschaft für Freiheitsrechte vom 16.02.2023