Soll die „aktivAPP“ Hartz-IV-Bezieher*innen überwachen? Kommunale Jobcenter der Stadt Offenbach sowie der Landkreise Main-Taunus und Offenbach starten Pilotprojekt
Pro Arbeit, das kommunale Jobcenter des Landkreises Offenbach, teilt am 13.12.2019 auf seiner Homepage mit: „Was kann ein Hartz-IV-Empfänger tun, um erwerbsfähig zu bleiben? Wie kann er erkennen, ob er gefährdet ist, seine Erwerbsfähigkeit zu verlieren? Diese Fragen werden die Kommunalen Jobcenter der Kreise Offenbach und Main-Taunus sowie der Stadt Offenbach künftig noch stärker im Blick haben. Gemeinsam starten sie ab Januar 2020 das Pilotprojekt ‚Kooperation für Prävention, Fitness und Gesundheit im Jobcenter‘ (KOPF22). Das Projekt soll… dazu beitragen, die Gefahr, dass eine Person ihre Erwerbsfähigkeit mittel- oder langfristig verliert, besser abzuschätzen und zu reduzieren. Im Mittelpunkt stehen Männer und Frauen mit einem beginnenden Handicap und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. ‚Für sie sollen neue Beschäftigungschancen eröffnet werden, indem die Jobcenter neue Ansätze zur Unterstützung und zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit über einen längeren Zeitraum erproben und auswerten‘… Ein zentraler Bestandteil des Projektes ist die Entwicklung einer ‚aktivAPP‘. Mit ihr erfassen Langzeitarbeitslose persönliche Daten zu ihren individuellen Lebensbedingungen, woraus die App einen Wert berechnet; den sogenannten ‚reha score‘. Dieser Score gibt an, ob und wie stark die Erwerbsfähigkeit eines Menschen bereits gefährdet ist. Aus den Ergebnissen werden maßgeschneiderte Förderstrategien abgeleitet, um die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen zu erhalten und zu stärken. Die jeweiligen Daten, aus denen sich der ‚reha score‘ berechnet, bleiben dabei anonym.“
In einer Projektdarstellung werden weitere Einzelheiten der beschriebenen Maßnahme bekannt gegeben. Auf der Grundlage dieser Information stellen sich eine Vielzahl von Fragen:
- Ist beabsichtigt, dass Menschen, die Anspruch auf Leistungen nach SGB II haben, auch gegen ihren Willen im Rahmen der Mitwirkungspflichten gem. §§ 60 – 66 SGB I zur Teilnahme an dem Pilotprojekt KOPF22 verpflichtet werden sollen?
- Wird Menschen, die Anspruch auf Leistungen nach SGB II haben und die an diesem Pilotprojekt teilnehmen (wollen oder müssen), ggf. ein Smartphone auf Kosten der jeweiligen kommunalen Jobcenter zur Verfügung gestellt?
- Wenn Ja – zu welchen Konditionen?
- Welche Kategorien von Daten sollen mit „aktivAPP“ erhoben und verarbeitet werden?
- Sind dabei auch Kategorien von Daten, die gem. Art. 9 DSGVO einem besonderen Schutz und einem Verarbeitungsverbot unterliegen; z. B. Gesundheitsdaten?
- Wer soll im jeweiligen Jobcenter in welcher Form Zugriff auf die erhobenen Daten erhalten? Bitte Organisations- bzw. Funktionsbezeichnung benennen.
- Wurden die behördlichen Datenschutzbeauftragten der drei beteiligten kommunalen Jobcenter in die Vorbereitung des Projekts einbezogen?
- Welche Stellungnahme haben sie abgegeben?
- Wurde der hessische Datenschutzbeauftragte in die Vorbereitung des Projekts einbezogen?
- Welche Stellungnahme hat er abgegeben?
- Wurde eine Datenschutz-Folgenabschätzung gem. Art. 35 DSGVO vorgenommen?
- Mit welchem Ergebnis?
- Von welchem Unternehmen wird die „aktivAPP“ entwickelt?
- Von welchem Unternehmen soll die „aktivAPP“ an die SGB-II-Leistungsbezieher*innen ausgeliefert werden?
- Wie soll sichergestellt werden, dass die unter den beiden vorgenannten Fragen bezeichneten Unternehmen keinen Zugriff auf die bei den Teilnehmer*innen des Pilotprojekts KOPF22 erhobenen Daten erhalten?
Die Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main hat eine entsprechende Anfrage an das für das Pilotprojekt KOPF22 verantwortlich zeichnende Jobcenter des Landkreises Offenbach gerichtet.
Auf Grund der mehr als nur mangelhaften Regelungen zur Informationsfreiheit im Hessischen Datenschutz- und Informationsfreiheitsgesetz (§§ 80 – 89 HDSIG) gibt es keinen Rechtsanspruch auf Auskünfte durch kommunale Behörden. Man darf also gespannt sein, ob und wie das Jobcenter des Landkreises Offenbach die o. g. Fragen beantwortet.
Das erinnert schwer an den Algorithmus zur Ermittlung der Arbeitsmarktchancen von Arbeitslosen, der ab Mitte 2020 in Österreich in den regulären Betrieb gehen soll. Dort hat der „Arbeitsmarktservice (AMS)“ (https://www.ams.at/), die dortige Organisation der Jobcenter, ein Computerprogramm entwickelt, um die Arbeitsmarktchancen von Arbeitslosen maschinell zu bewerten. Das Programm befindet sich derzeit im Testbetrieb und soll ab Mitte 2020 österreichweit in den Echtbetrieb wechseln.
Das österreichische Internet-Magazin futurezone.at hat dieses Programm in einem Beitrag im September diesen Jahres wie folgt bewertet:
Das System funktioniert Folgendermaßen: Das AMS zeigt seit November 2018 den Mitarbeitern per Computer die Arbeitsmarktchancen von ihren Kunden an, wenn diese bei ihnen vorstellig werden. Wer arbeitslos wird und sich beim AMS meldet, wird seither von einem Computerprogramm bewertet und eingeteilt. Im Segment A befinden sich Personen mit sehr guten Integrationschancen ohne Unterstützungsbedarf, im Segment B die Personen mit mittleren Integrationschancen, die „notwendige Unterstützung“ bekommen sollen, und im Segment C die Personen mit „geringen Integrationschancen“ in den Arbeitsmarkt. Die Betreuung dieser Personen mit schlechter Jobperspektive soll künftig an eine externe Jobagentur ausgelagert werden, die für die Betroffenen Angebote wie „gemeinsames Bewegen und Musizieren“ oder zur „psychosozialen Stabilisierung“ schafft. Menschen, denen der Computer schlechte Perspektiven prognostiziert, bekommen damit keine teuren Ausbildungen mehr, sondern werden in ein eigenes Programm gesteckt.
Wer den interessanten Beitrag lesen will, bitte hier anklicken: https://futurezone.at/amp/netzpolitik/ams-gibt-gruenes-licht-fuer-bewertung-von-arbeitslosen-durch-algorithmus/400607894