Nein zum Ausbau der Videoüberwachung durch die Polizei im Bahnhofsviertel Frankfurt
Ende 2024 hat die CDU-SPD-Koalition im hessischen Landtag mit Neuregelungen in § 14 HSOG, dem hessischen Polizeigesetz, die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, die polizeiliche Videoüberwachung des öffentlichen Raums durch Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit Mustererkennung und biometrischer Überwachung maßlos zu erweitern. Seit 10.06.2025 werden als bundesweit (noch) einmaliges Pilotprojekt im Frankfurter Bahnhofsviertel die rechtlichen und technischen Möglichkeiten zur Überwachung von Menschen genutzt. Mit Unterstützung der Stadt Frankfurt, die die stationären Kamerastandorte zur Verfügung stellt und die dort installierte Überwachungstechnik finanziert, betreibt die hessische Polizei an insgesamt neun Standorten im Bahnhofsviertel Überwachungskameras. Fünf stationäre, dauerhaft in Betrieb befindliche Anlagen und vier mobile, die zeitweise genutzt werden.
Quelle: Polizeipräsidium Frankfurt – grün = stationäre Anlagen, blau = mobile Anlagen
Mehrere Dutzend Kameras mit moderner leistungsfähiger Technik und unterschiedlicher Bauart filmen das Geschehen im Frankfurter Bahnhofsviertel und zeichnen es auf. Die Aufzeichnungen werden 14 Tage gespeichert und dann gelöscht, sofern sie nicht als Beweismittel im Strafverfahren dienen. Das erklärt die Polizei in ihrer Datenschutzerklärung.
Die Gesichter aller Passant*innen können mit Hilfe von Künstlicher Intelligen (KI) analysiert und mit Fotos gesuchter Personen abgeglichen werden. Damit kommt in Deutschland erstmals automatisierte Echtzeit-Gesichtserkennung zum Einsatz. Nicht als Test, wie einst am Bahnhof Südkreuz in Berlin, sondern als Echtbetrieb. Sie soll genutzt werden zur gezielten Suche nach Personen, bei denen die Gefahr einer terroristischen Straftat vermutet wird, aber auch bei Personen, die Opfer von Entführung, Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung oder die vermisst werden (§ 14 Abs. 9 HSOG). Gibt es einen Treffer, greift die Polizei zu. Die Technologie gilt als diskriminierend, weil sie bei Frauen oder People of Color mehr Fehler macht als bei Männern mitteleuropäischer Herkunft.
Der Einsatz von Gesichtserkennung steht unter dem Vorbehalt, dass ihr zuvor eine Richter / ein Richter zugestimmt hat, es sei denn, die Polizei würde „Gefahr im Verzug“ erkennen. Dann geht es erst mal auch ohne richterliche Zustimmung. Richtervorbehalte sind in der Praxis ein stumpfes Schwert bei der Kontrolle polizeilichen Handelns Ein Beispiel: In Berlin wird jährlich ein Bericht über die Praxis der Telefonüberwachung durch die Polizei veröffentlicht. Aus dem Bericht für 2020 geht hervor:
- „Anzahl der Betroffenen i.S.d. § 100a Abs. 3 StPO 506
- Zahl der überwachten Anschlüsse 1.687
- Zahl der ablehnenden Entscheidungen 0
- Zahl der tatsächlich abgehörten Gespräche 37.279“
Über alle Jahre hinweg konstant ist die Zahl der Fälle, in denen ein Richter die von der Polizei beantragten Überwachungsmaßnahmen ablehnt: Diese Zahl liegt seit mehreren Jahren bei Null, wie die Jahresberichte für 2015, 2016, 2017, 2018 und 2019 belegen.
Die Neuregelungen im hessischen Polizeirecht lassen neben Gesichtserkennung auch die automatisierte Erkennung von Bewegungsmustern zu, die auf die Begehung einer Straftat hindeuten oder auf die Mitführung von Waffen, Messern und gefährlichen Gegenständen (§ 14 Abs. 8 HSOG). Auch hier gilt: Gibt es einen Treffer, greift die Polizei zu. Und manchmal auch daneben, weil Bewegungen, von Maschinen und Algorithmen gesteuert, falsch interpretiert werden können.
Aber allein schon die Tatsache, dass sich wg. der Zahl und Platzierung der Kameras im Bahnhofsviertel kaum noch jemand hier anonym bewegen und aufhalten kann, sondern als potentielle „Gefahrenquelle“ gilt und damit überwacht werden kann, widerspricht der Vorstellung einer freien und offenen Gesellschaft.
Ernst Benda, Mitglied der CDU, Bundesinnenminister von 1968-69 und Präsident des Bundesverfassungsgerichtes von 1972 – 1989 erklärte 2007: „Einen Staat, der mit der Erklärung, er wolle Straftaten verhindern, seine Bürger ständig überwacht, kann man als Polizeistaat bezeichnen.“
Zu Zeiten Bendas hat das Bundesverfassungsgericht in seinem sogenannten Volkszählungsurteil im Dezember 1983 festgestellt: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine… Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen… Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist…“ Und weiter kann man im Urteil lesen: „Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten.“
Dem ist nichts hinzu zu fügen. Außer: Auf Politik, Parteien und Parlamente ist kein Verlass bei der Verteidigung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Denn in unterschiedlichen Koalitionen in Bund und Ländern haben CDU und SPD, aber auch FDP, Grüne und Linke Polizei- und Überwachungsgesetze verschärft. Die AfD hat immer nur dann gegen Neuregelungen gestimmt, wenn sie ihnen nicht weit genug gingen.
Wer sich und seine Rechte gegen staatliche Übergriffe schützen will, muss selbst aktiv werden. Deshalb begrüßt es die Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main, dass sich
im Bahnhofsviertel Widerstand gegen den Ausbau polizeilicher Videoüberwachung
- regt. Zwei Beispiele:
- Mit einer Beschwerde gegen die Installation von Videoüberwachungsanlagen mit biometrischer Echtzeit-Fernidentifizierung, die auch die Rundum-Überwachung der Prostituierten-Beratungsstelle Doña Carmen e.V. ermöglichen, hat sich der Verein Doña Carmen e.V. am 26.06.2025 an den Hessischen Datenschutzbeauftragten gewandt.
- Am 10.07.2025 hat das Hausprojekt NiKa im Frankfurter Bahnhofsviertel an der Ecke Karlstraße-Niddastraße, Klage gegen das Land Hessen aufgrund der KI-gestützten Kameraüberwachung am Karlsplatz eingereicht. In einer Pressemitteilung vom 23.07.2025 wird dazu umfangreich informiert.
Die Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main beobachtet und kritisiert seit vielen Jahren den Ausbau der polizeilichen Videoüberwachung im Bahnhofsviertel, an der Konstablerwache und in anderen Stadtteilen von Frankfurt und begrüßt und unterstützt daher diese und andere Aktivitäten. Als eigenen Beiträg zu dieser Auseinandersetzung laden wir für Samstag 18. Oktober ab 14.00 Uhr zu einem
Spaziergang durch das videoüberwachte Bahnhofsviertel
ein. Treffpunkt ist um 14.00 Uhr am NiKa-Haus an der Ecke Niddastraße / Karlstraße.