„Die Überwachung der Armut“ – ein (zu) wenig beachteter Bestandteil des Überwachungsstaats
Dass Hartz IV – insbesondere wenn der Bezug von SGB-II-Leistungen länger als ein Jahr andauert – staatlich verordnete Armut bedeutet, hat sich inzwischen weitgehend rumgesprochen. Doch wie es um die Überwachung und Kontrolle der Betroffenen durch die Jobcenter steht, ist ein weniger beachtetes Thema.
Immer wieder müssen sich Gerichte und die Bundesdatenschutzbeauftragte mit datenschutzrechtlichen Verstößen einzelner Jobcenter auseinandersetzen. Einige Beispiele:
- Bundessozialgericht, Urteil vom 25.01.2012 (AZ: B 14 AS 65/11 R): Jobcenter darf Daten von Leistungsbeziehern nicht ohne deren Einverständnis an Dritte weitergeben
- Landgericht Heidelberg, Urteil vom 22.08.2013 (AZ: 3 O 403/11): Eine grundlose ärztliche Untersuchung stellt einen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar
- Bundesdatenschutzbeauftragte, Stellungnahme vom 27.05.2014: Datenschutz gilt auch für Briefe aus den Jobcentern
- Dass in großem Umfang und zu unterschiedlichen Problemstellungen in den Jobcentern Unklarheit über datenschutzrechtliche Normen herrscht, macht eine Weisung aus den Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 09.09.2015 an die kommunalen Jobcenter in Bayern deutlich. Das umfangreiche Schreiben lässt sich nur so erklären, dass dem Ministerium als Fach- und Rechtsaufsicht über die kommunalen Jobcenter in Bayern eine Vielzahl datenschutzrechtlich fragwürdiger bzw. rechtswidriger Praktiken bekannt geworden ist.
- Auch der Anstieg der Kontenauskunftsersuchen beim Bundeszentralamt für Steuern von 72.578 in 2012 auf 300.944 in 2015 lässt sich zu einem Gutteil damit erklären, dass auch Jobcenter zunehmend zu diesem Mittel greifen. Dazu stellt der frühere Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar, bereits in einer Stellungnahme vom 26.11.2013 fest: „Das Kontenabrufverfahren wurde 2002 mit der Begründung eingeführt, die Finanzströme des Terrorismus aufzudecken. Hierfür wurde eine zentrale Abrufmöglichkeit für die Daten aller Konteninhaber in Deutschland eingerichtet. In den Folgejahren wurden die Befugnisse zum Abruf stark ausgeweitet: Finanzämter, Sozialdienststellen, Jobcenter, Gerichtsvollzieher und viele andere Behörden nutzen inzwischen das Abrufverfahren. Das Argument des Kampfs gegen den Terrorismus diente – wie wir jetzt wissen – als eine Art Türöffner zu den Kontodaten. Wie Prüfungen der Aufsichtsbehörden ergeben haben, fehlen oftmals sogar die Begründungen für den konkreten Abruf und Benachrichtigungen der Betroffenen unterbleiben…“
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) möchte jetzt den Überwachungsdruck auf die BezieherInnen von SGB-II-Leistungen noch weiter erhöhen. Im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des SGB II (sogenanntes „Rechtsvereinfachungsgesetz“), das am 03.02.2016 vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, ist u. a. vorgesehen, die Frequenz der maschinell erstellten Datenabgleiche gemäß § 52 SGB II von bisher 4 mal pro Jahr auf 12 mal pro Jahr zu erhöhen. Diese Datenabgleiche betreffen den Datenaustausch der Jobcenter mit
- den Trägern der gesetzlichen Unfall- oder Rentenversicherung,
- den Krankenkassen,
- dem Bundeszentralamt für Steuern,
- den Trägern der Sozialhilfe,
- der Bundesagentur für Arbeit und
- den anderen Jobcentern.
Die Personalräte aller Jobcenter in Deutschland haben in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Erhöhung der Frequenz der maschinell erstellten Datenabgleiche festgestellt: „Die Maßnahme wird als massive Mehrbelastung bewertet.“ Will sagen: Zusätzliche Belastung der Jobcenter-MitarbeiterInnen wird zu zusätzlichen Verzögerung in der Bearbeitung von Anliegen und Anträgen, zusätzlichem Frust und zusätzlicher Wut bei den betroffenen Erwerbslosen führen.
Nach § 52a SGB II sind weitere Auskunftsersuchen der Jobcenter möglich bei
- dem Zentralen Fahrzeugregister,
- dem Melderegister und
- dem Ausländerzentralregister.
Die überwachungskritische Gruppe Seminar für angewandte Unsicherheit (SaU) aus Berlin greift im März 2016 gemeinsam mit Netzpolitik.Org unter dem Titel „Die 1000 Augen der Jobcenter“ das Thema Überwachung und Kontrolle von Erwerbslosen in einer Veranstaltungsreihe auf.
Auf der Homepage der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit gibt es für Erwerbslose eine Reihe von sehr knappen Informationen im Zusammenhang mit datenschutzrechtlichen Fragestellungen.
Der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (Kontaktdaten hier) obliegt die Datenschutzaufsicht über alle Jobcenter, die als Gemeinsame Einrichtungen von Bundesagentur für Arbeit (BA) und kommunalen Trägern geführt werden. An sie können Beschwerden gerichtet werden, wenn Jobcenter sich in datenschutzrechtlichen Fragen rechtswidrig verhalten. Bein den Jobcentern in alleiniger kommunaler Trägerschaft liegt die Datenschutzaufsicht bei den Landesdatenschutzbeauftragten der jeweiligen Bundesländer.
Datenschutzverstösse der Jobcenter (wiederholt als Behörde bezeichnet, das sie nciht sind) sind unverzüglich mittels Ordnungswidrigkeitsanzeige anzuzeigen! Die Eingabe beim BDS Beauftragten sollte zeitgleich erfolgen denn daraus leiten sich Strafmass für Jobcenter und zivilrechtliche Ansprüche des Geschädigten ab.
Dieser ausgezeichnet recherchierte Artikel hält was die Überschrift verspricht. In den Erwerbslosen- und Beratungsgruppen ‘läuft’- leider – der Informationsüberwachungsaspekt nur im Hintergrund mit.
Ich arbeite mit in Erwerbslosengruppen in der Rhein-Main-Region und werde diesen Artikel bzw. Link über meine Verteiler weiterverbreiten.
Vielen Dank an die Gruppe bzw. an Verfassser(in).
Helga
Übrigens würden sich durch die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens die beschriebenen Probleme (zumindest weitgehend) erledigen. Siehe dazu auch
http://bgerheinmain.blogsport.de/2016/02/16/das-bge-ist-auch-datenschutz/
Dieser Artikel dürfte auch für die Bezieher von Grundsicherung nach dem SGB XII
wichtig sein.
Mit freundlichen Grüßen