Verwaltungsgericht Hannover erlaubt minutengenaue Überwachung von Amazon-Beschäftigten
„Der Strichcode ist im Hause Amazon ein ständiger Begleiter. Unauffällig steht er auf der Firmenkarte, die jedem Mitarbeiter um den Hals baumelt. Sie öffnet ihm die Tore in die Welt der Amazon-Lager. Schon am großen Drehkreuz vor dem Eingang des Amazon-Logistikzentrums… geht es los… Hinter den Schleusen wartet der nächste Einsatz für die Firmenkarte. An den Scannern dort wird der Arbeitsbeginn dokumentiert… Doch damit hat die Karte noch lange nicht ihren Dienst erfüllt. Innerhalb eines Arbeitstages kommt sie noch viele Male zum Einsatz, je nachdem, in welchem Arbeitsbereich der Mitarbeiter eingesetzt wird… Die Pakete werden ausgepackt, eingescannt und in den Regalen verstaut. Dabei hantieren die Mitarbeiter unablässig mit einem Scanner in der Hand. Zunächst scannen sie damit den Barcode ihrer Firmenkarte. Dann registrieren sie, welche Ware sie wann in welches Regal legen… Das perfekt kontrollierte Einräumen ist die Grundlage für die Arbeit der sogenannten Picker, der Mitarbeiter, die eine Ware wieder ausräumen, sobald eine Bestellung eingegangen ist. Auch die Picker scannen zunächst sich selbst und dann die Produkte, die sie aus den Regalen holen und zur Verpackungsstation bringen… Dutzende von Kameras runden den Überwachungsapparat ab. Damit hat Amazon die Abläufe stets unter Kontrolle… Den Warenfluss ständig zu überprüfen gehört für Amazon zum Geschäft. Das Problem ist: Auch der Mitarbeiter gerät in den Strudel ständiger Überwachung. Bleibe einer mit seinem Handscanner minutenlang untätig, werde das System nervös und löse einen Alarm aus, berichtet der Betriebsrat. Oft dauere es nicht lange, bis der Manager vorstellig wird. Dann gehe die Fragerei los… Amazon argumentiert, Kameraüberwachung und die elektronische Datenerhebung dienten der Prozessoptimierung; der Betriebsrat behauptet, das Ziel sei die Leistungsbeurteilung der einzelnen Mitarbeiter…“ So beschreibt ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 25.11.2014 den Arbeitsalltag in einem Amazon-Logistikzentrum.
Amazon darf nach Ansicht einer Richterin des Verwaltungsgerichts Hannover die Beschäftigten des Amazon-Logistikzentrums in Winsen a. d. Luhe weiterhin in dieser Art und Weise engmaschig überwachen. Das Gericht befasste sich mit einer Klage von Amazon gegen die niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte. Diese hatte der Amazon Logistik Winsen GmbH untersagt, ununterbrochen und jeweils aktuell und minutengenau Qualitäts- und Quantitätsleistungsdaten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erheben und weiter zu verarbeiten. Die taz vom 09.02.2023 zitiert die Verwaltungsrichterin mit lebensfremden und unterirdischen Aussagen, die sie im Prozess gemacht haben soll: „‚Einfach nur zu behaupten, es gebe einen Anpassungs- und Leistungsdruck, reicht nicht‘… ‚Es gibt viele verschiedene Überwachungsprogramme‘ … ‚Jeweils ist die psychische Belastung unterschiedlich.‘ Bei relativ einfacher Arbeit sei die Angst Studien zufolge nicht so groß wie bei kreativen Tätigkeiten. Auch sei das Mitschneiden von Telefonaten anders zu bewerten als das Erfassen von Scans.“
Die niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte Barbara Thiel erklärte nach dem Urteil: „Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überwiegt… Der durch die minutengenaue Leistungsdatenerhebung sowie deren weitere Verarbeitung entstehende Anpassungs- und Leistungsdruck ist aus meiner Sicht höher zu gewichten als das wirtschaftliche Interesse des Unternehmens.“ Sie verwies darauf, dass „die Grenzen einer Datenverarbeitung von Beschäftigten… gesetzlich klar festgelegt werden“ müssen. Der aktuelle Fall zeige, wie berechtigt die Forderungen der Konferenz der Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder aus ihrer Entschließung „Die Zeit für ein Beschäftigtendatenschutzgesetz ist ‚Jetzt‘!„, vom 29.04.2022 sei.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat bereits im Februar 2022 einen Entwurf für ein Beschäftigtendatenschutzgesetz vorgelegt. Anja Piel, Mitglied des DGB-Bundesvorstands, hat in einem vom DGB-Bundesvorstand veröffentlichten Interview zur Frage „Warum brauchen wir ein Beschäftigtendatenschutzgesetz?“ erklärt: „Das Arbeitsverhältnis ist keine Beziehung auf Augenhöhe. Für die meisten Beschäftigten und ihre Familien ist der Lohn der Arbeit Existenzgrundlage – zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen besteht ein Abhängigkeitsverhältnis und ein Machtgefälle. Bestimmte Regelungen – zum Beispiel aus dem Bundesdatenschutzgesetz – sind deshalb auch nur begrenzt wirksam. Ein Beispiel: Immer mehr Personaldaten werden automatisch verarbeitet. Beschäftigten fällt es womöglich schwer, diese Nutzung ihrer Daten durch den Arbeitgeber zu verweigern, weil sie negative Konsequenzen befürchten. Tatsächlich nutzen manche Arbeitgeber die Krise und die digitale Arbeit bereits, um Beschäftigte zu überwachen – illegal, ohne deren Wissen oder Einwilligung und unter Missachtung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte. Arbeitgeber können jeden Tastenanschlag und jede besuchte Website, jede Aktivität in sozialen Netzwerken protokollieren…“
Unternehmensleitungen und deren Beauftragte nutzen immer häufiger digitale Methoden, um Beschäftigte zu überwachen oder personenbezogene Daten über sie zu sammeln. Oft geschieht das heimlich. Und in vielen Fällen ist das rechtswidrig. An einige mehr oder weniger „prominente“ Fälle dieser Art sei erinnert:
- Anfang 2015 wurde bekannt, dass der Daimler-Konzern “zur Terrorismusbekämpfung” mit Zustimmung des Konzernbetriebsrat auf Druck aus den USA alle 280.000 Beschäftigten überwachen lies.
- Ende 2019 wurde bekannt, dass der Handels-Konzern H & M Mitarbeiter*innen bespitzeln lies und private Daten von Beschäftigten illegal erhoben und gespeichert hat. Dies wurde zwar ein Jahr später vom Hamburger Datenschutzbeauftragter mit einem Bußgeld i. H. v. 35,3 Mio. € sanktioniert. Der durch das rechtswidrige Verhalten von H % M entstandene Schaden für die Beschäftigten war damit aber nicht aus der Welt geschafft.
- Die niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte hat im Januar 2021 mitgeteilt, dass sie eine Geldbuße über 10,4 Mio. € gegenüber der notebooksbilliger.de AG verhängt hat. Das Unternehmen hatte über mindestens zwei Jahre seine Beschäftigten per Video überwacht, ohne dass dafür eine Rechtsgrundlage vorlag. Die unzulässigen Kameras erfassten unter anderem Arbeitsplätze, Verkaufsräume, Lager und Aufenthaltsbereiche.
- Die rechtswidrige Überwachung von Beschäftigten durch Detektivbüros war in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand von Arbeitsgerichtsentscheidungen, so vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg; vom Landesarbeitsgericht Hessen und vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg.
- Das Arbeitsgericht Berlin entschied im Oktober 2019, dass eine Arbeitszeiterfassung per Fingerabdruck ohne freiwilloige und informierte Einwilligung der Beschäftigten unzulässig ist.
- Das Verwaltungsgericht Lüneburg erklärte im März 2019, dass der Einsatz eines GPS-Ortungssystems im Firmenfuhrpark datenschutzrechtlich unzulässig sei, wenn auch eine private Nutzung der Fahrzeuge möglich ist, was bei dem klagenden Unternehmen der Fall war.
- Das Arbeitsgericht Münster sprach im März 2021 einer Beschäftigten 5.000 € Schmerzensgeld zu, da das Unternehmen ein Foto von ihr ohne ihre vorherige Zustimmung veröffentlichte.
- Das Arbeitsgericht Berlin hat sich in einem Urteil vom August 2017 mit der Überwachung eines angestellten Taxifahrers durch das Taxiunternehmen auseinander gesetzt und entschieden: Ein Taxiunternehmen kann von einem bei ihm als Arbeitnehmer beschäftigten Taxifahrer nicht verlangen, während des Wartens auf Fahrgäste alle drei Minuten eine Signaltaste zu drücken, um seine Arbeitsbereitschaft zu dokumentieren.