Landgericht Tübingen stellt fest: Videoüberwachung eines Wohnprojekts durch die Polizei war illegal

CCTV-NeinDanke/ Juni 18, 2020/ alle Beiträge, Polizei und Geheimdienste (BRD), Videoüberwachung/ 2 comments

Im Juli 2016 überwachte die Polizei in Tübingen fast vier Wochen lang heimlich die autonomen Wohnprojekte Schellingstraße und Ludwigstraße. Nur durch Zufall hatten die Bewohner*innen der Schellingstraße erfahren, dass die Polizei eine Überwachungskamera bei einem Nachbarn aufstellen wollte. Mit Hilfe des Baden-Württembergischen Datenschutzbeauftragten Stefan Brink deckten die Bewohner*innen den Überwachungsskandal auf.

Die Videoüberwachung wurde von der Staatsanwaltschaft Tübingen im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen unbekannt im Zusammenhang mit zwei Brandstiftungen an Autos eigenmächtig angeordnet, ohne – wie rechtlich vorgesehen – eine richterliche Erlaubnis einzuholen. Die Begründung: Bei den Wohnprojekten handle es sich „um einschlägig bekannte linke Szeneobjekte“, die sich in „fußläufiger Nähe“ zu einem der beiden Tatorte befänden. Die Tübinger Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht argumentierten unisono, die Überwachung der Bewohner*innen sei legal gewesen, da es sich bei ihnen nicht um Beschuldigte handle. Das Landgericht widerspricht dieser Einschätzung, zumal die „widersinnige Konsequenz wäre, dass die Observierung eines Nichtbeschuldigten geringeren rechtlichen Voraussetzungen unterläge als die Observierung eines Beschuldigten“. Die Maßnahme habe zudem „erst recht“ dem Richtervorbehalt unterlegen, da es sich um eine „längerfristige Observation sämtlicher Bewohner und Besucher der Gebäude“ gehandelt habe, so das Landgericht. Amtsgericht und Staatsanwaltschaft hatten hingegen suggeriert, es habe sich um eine reine Objektüberwachung gehandelt.

Das Wohnprojekt Schellingstraße in Tübingen besteht aus drei Häuser mit 13 Wohngemeinschaften und Bauwägen. Die Wohngemeinschaften haben zwischen 6 und 13 Bewohner*innen, insgesamt wohnen dort etwa 110 Personen, darunter auch einige Kinder.

Die Videoüberwachung war illegal, wie das Landgericht Tübingen mit Urteil vom 11.03.2020 in zweiter Instanz entschied. Es hob damit einen vorhergehenden Beschluss des Amtsgerichts auf. Die „Maßnahme stellte […] eine längerfristige Observation dar und hätte – wenn überhaupt – nur durch einen Ermittlungsrichter angeordnet werden dürfen“, erklärt das Landgericht in seinem Beschluss.

Kläger*innen waren mehrere Bewohner*innen des Wohnprojektes Schellingstraße. „Offiziell informiert, wie es gesetzlich vorgesehen ist, wurden wir nie“, erklärte einer der insgesamt fünf Kläger*innen. „Mit den heimlichen Überwachungsmaßnahmen, die den Betroffenen nie bekannt werden, untergräbt die Polizei den Rechtsstaat. Statt die Befugnisse der Polizei immer weiter auszubauen, muss diese endlich effektiv kontrolliert werden“.

Der Rechtsanwalt der Bewohner*innen und Vorsitzende der Humanistischen Union Baden-Württemberg, Dr. Udo Kauß, erklärte nach der Entscheidung des Landgerichts: „Die nach Bekanntwerden der Videoüberwachung beantragte richterliche Überprüfung zeigt, dass sich auch eine nachträgliche juristische Gegenwehr durchaus lohnen kann. Es gilt leider immer wieder aufs Neue, der Polizei klar zu machen, dass sie nicht in eigener Machtvollkommenheit über die Grundrechte von Bürgern befinden kann, auch wenn es sich um Angehörige der ihr missliebigen linken Szene handelt.“


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Weitere Hintergründe und bisherige Berichterstattung zur Videoüberwachung der Wohnprojekte können auf der Homepage eines der Kläger*innen und auf meldestelle.mtmedia.org nachgelesen werden.

2 Comments

  1. “(…) Die Staatsanwaltschaft hatte in einem Ermittlungsverfahren wegen schwerer Brandstiftung aufgrund von Indizien darauf geschlossen, dass der Täter der autonomen Szene zuzuordnen sei. (…)“ (netzpolitik.org, 17.06.29)

    Für mich liest sich der Sachverhalt so, als hätten die Strafverfolgungsbehörden von vornherein gewusst, dass es für ihre Observationsmaßnahme, welche diese “heimliche Videoüberwachung“ darstellt, kein richterliches okay geben würde: Kein konkreter Tatverdacht, sondern lediglich Indizien sind für eine strafprozessuale Observation ein bissl arg wenig – dafür braucht’s kein Jura-Studium. “(…) § 163f StPO (Längerfristige Observation) fordert als Tatverdacht »zureichende tatsächliche Anhaltspunkte« im Hinblick auf eine »Straftat von erheblicher Bedeutung«. Der Gesetzgeber greift damit auf einen Sprachgebrauch zurück, den er wortgleich auch im § 163e StPO (Rasterfahndung) und im § 152 Abs.2 StPO (Offizial- und Legalitätsprinzip) verwendet. (…) Unbestritten ist, dass Vermutungen und Annahmen nicht ausreichen, um »zureichende tatsächliche Anhaltspunkte« begründen zu können. (…)“
    So könnte diesbezüglich ein Entscheidungsträger mit “Bauernschläue“ auf eine ganz tolle Idee gekommen sein: Wenn wir keine(n) RichterIn fragen gibt’s auch kein “Nein“ für unsere Pläne (welche schon nicht herauskommen werden, so dachte man).
    Zuständige ErmittlungsrichterInnen dürften zurecht sauer sein über diese Praxis der Ermittlungsbehörden; sie sind hier schlicht hintergangen worden. Die schlechte Presse zum Sachverhalt müssen sich wohl Polizei und Staatsanwaltschaft zurechnen lassen.

  2. Und Konsequenzen wird es wie üblich keine geben

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