Jetzt auch in Leipzig: Verwaltungsgericht erklärt Nutzung stationärer Polizeikamera bei Demonstration für rechtswidrig

CCTV-NeinDanke/ Oktober 6, 2020/ alle Beiträge, Polizei und Geheimdienste (BRD), Videoüberwachung/ 0Kommentare

Mit noch nicht rechtskräftigem Urteil vom 15.07.2020 (Aktenzeichen: 1 K 737/19) hat das Verwaltungsgericht Leipzig festgestellt, dass bei der von der Klägerin – es handelt sich um die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) – angemeldeten Demonstration am 06.04.2019 in Leipzig die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen mittels der stationären Videokamera der sächsischen Polizei am Connewitzer Kreuz rechtswidrig war.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin zeigte unter dem 28.3.2019 als Vertreterin der Initiative Mieter*innen eine Versammlung für den 06.04.2019 an, für die etwa 100 Personen erwartet wurden. Die Demonstrationsstrecke führte über einen Teilbereich des Connewitzer Kreuzes, welcher seit dem Jahr 2003 mittels einer stationären an einem Mast befestigten Kamera von der Polizei videoüberwacht wird. Der von der schwenkbaren Kamera im Regelbetrieb abgedeckte Bereich umfasst die unmittelbare Umgebung des Connewitzer Kreuzes mit den angrenzenden Straßenmündungen. Die im Vorfeld der Demonstration geäußerte Bitte der Klägerin, während der Versammlung die stationäre Kamera auszuschalten, lehnte die Polizei ab.

Das Verwaltungsgericht Leipzig hat mit dem Urteil vom 15.07.2020 der Feststellungsklage der Klägerin vom 09.04.2019 stattgegeben. Der Beklagte habe durch die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen rechtswidrig in das Versammlungsrecht der Demonstrationsteilnehmer gemäß Art. 8 Grundgesetz (GG) eingegriffen. Art. 8 GG garantiert mit der inneren Versammlungsfreiheit die individuelle Entschlussfassung, an der kollektiven Meinungsbildung in freier Selbstbestimmung teilzunehmen. Diese Entschlussfassung müsse freibleiben von Unsicherheit, Angst und Einschüchterungseffekten. Denn wer damit rechnen muss, dass seine Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, werde möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten. Aus Sicht eines verständigen Dritten entfalte auch eine fest installierte Kameratechnik zur Überwachung der Örtlichkeit eine Abschreckungswirkung für potenzielle Versammlungsteilnehmer. Es sei der Polizei möglich und zumutbar gewesen, für den kurzen Zeitraum des Durchzugs der friedlichen Demonstration die Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen auf den außerhalb des Demonstrationsgeschehens liegenden Bereich des Connewitzer Kreuzes zu beschränken. Bei einem Auftreten von Straftaten im zeitweilig nicht videoüberwachten Bereich habe die vorhandene Kameratechnik ohne weiteres und ohne zeitliche Verzögerung wieder eingesetzt werden können.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Berufung zum Sächsischen Oberverwaltungsgericht offen.

Die Klägerin, die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) erklärte nach Zustellung des Urteils an sie: „Das Verwaltungsgericht hat im Sinne des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit entschieden. Denn dieses Grundrecht ist im Rahmen der Gefahrenabwehr, welche die stationäre Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz bezweckt, zu beachten. Folglich befindet das Verwaltungsgericht Leipzig, dass die Videoüberwachung der Demonstration ins Grundrecht auf Versammlungsfreiheit eingegriffen hat und dieser Eingriff nicht unter Rückgriff auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht gerechtfertigt werden konnte. Videographie ist im Rahmen von Versammlungen nur dann erlaubt, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von Personen im Zusammenhang mit einer Versammlung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (§ 20 Sächsisches Versammlungsgesetz). Eine pauschale, vom Einzelfall unabhängige Überwachung von Versammlungen inklusive Aufzeichnung und Speicherung, wie sie bei stationären Kameras geschieht, ist unzulässig und hat eine einschüchternde Wirkung auf Versammlungsteilnehmer*innen (siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts – 1 BvR 2492/08). Dies widerspricht schlussendlich dem Anspruch auf demokratische Teilhabe.

Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil vom 17.02.2009 zur anlasslosen Videoüberwachung von Versammlungen fest: „Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Denn wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten.“

Juliane Nagel erklärte weiter: Das Urteil des Verwaltungsgerichtes bedeutet, dass die stationären Polizeikameras in Leipzig in Zukunft bei Versammlungsgeschehen jedenfalls weggedreht, wenn nicht gar ausgeschaltet werden müssen. Ich fordere die Polizei auf, Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen und stationäre Kameras bei Versammlungslagen abzudecken, damit die Nichtaufzeichnung des Demonstrationsgeschehens den Versammlungsleiter*innen und Versammlungsteilnehmer*innen glaubhaft gemacht werden kann.

Sie wies ergänzend auf eine Klage der Inhaber*innen eines Ladengeschäfts hin, die noch vor dem Verwaltungsgericht Leipzig anhängig ist. In diesem Verfahren wird die die stationäre Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz grundsätzlich in Frage gestellt. „Ich blicke erwartungsvoll auf die Verhandlung dazu und hoffe, dass die seit fast 20 Jahren währende Dauerüberwachung und Kriminalisierung des Stadtteils und seiner Bewohner*innen ein Ende hat.“

Quellen:


Das Oberverwaltungsgericht NRW hat in der ersten Jahreshälfte 2020 in zwei Urteilen die anlasslose Videoüberwachung von Demonstrationen / Kundgebungen durch stationäre Kameras die Polizei für rechtswidrig erklärt und die Polizeipräsidien Köln und Dortmund aufgefordert, die entsprechenden Kameras während Kundgebungen und Demonstrationen für die Versammlungsteilnehmer*innen sichtbar zu deaktivieren.


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