Paradigmenwechsel bei der Videoüberwachung? Beabsichtigte gesetzliche Neuregelungen nach Inkrafttreten der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) reduzieren Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung
Die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) tritt am 25.05.2018 in Kraft. Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat am 11.11.2016 einen zweiten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) vorgelegt. Dieser Entwurf enthält auch einen „§ 4 Videoüberwachung“, der den bislang geltenden § 6b BDSG (Bundesdatenschutzgesetz) ersetzen soll – siehe Seite 6 des Referentenentwurfs des BMI. Dort findet sich u. a. folgende Regelung: „(1) Für die Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume gilt: … 2. nicht-öffentliche Stellen dürfen personenbezogene Daten aus optisch-elektronischen Einrichtungen verarbeiten (Videoüberwachung), wenn es zum Schutz von Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen erforderlich ist, die sich in öffentlich zugänglichen großflächigen Anlagen, insbesondere Sport-, Versammlungs- und Vergnügungsstätten, Einkaufszentren oder Parkplätzen, oder Einrichtungen und Fahrzeugen des öffentlichen Personenverkehrs aufhalten, und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der betroffenen Person überwiegen. Bei der Abwägungsentscheidung nach Satz 1 ist der Schutz von Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen, die sich in Anlagen nach Satz 1 aufhalten, in besonderem Maße zu berücksichtigen. (2) …“
In der Gesetzesbegründung wird dazu auf S. 72/73 u. a. ausgeführt: „…Von Absatz 1 umfasst wird sowohl die Erhebung von personenbezogenen Daten aus optisch-elektronischen Einrichtungen wie auch alle weiteren Verarbeitungen… Absatz 1 Nummer 2 begründet eine spezifische Befugnis zur Videoüberwachung durch nichtöffentliche Stellen, die als Betreiber großflächiger, öffentlich zugänglicher Anlagen, wie Sport-, Versammlungs- und Vergnügungsstätten, Einkaufszentren oder Parkplätzen, oder Einrichtungen und Fahrzeugen des öffentlichen Personenverkehrs, einen über die zivilrechtliche Verpflichtung (z. B. Verkehrssicherungspflicht) hinausgehende Beitrag leisten, der auch im öffentlichen Interesse liegt… Die Regelung ist gedeckt durch Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe e (‚Wahrnehmung einer Aufgabe …, die im öffentlichen Interesse liegt‘) i. V. m. Artikel 6 Absatz 3 Satz 1 der Verordnung (EU) 2016/679 und gestützt durch den Erwägungsgrund 45… Bei solchen Anlagen ist in der Abwägungsentscheidung verstärkt zu beachten, dass die Betreiber neben ihren zivilrechtlichen Verpflichtungen (z. B. Verkehrssicherungspflicht) auch sicherheitsrelevante Belange berücksichtigen sollen…“
Die Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. (DVD) stellt dazu in einer Stellungnahme vom 22.11.2016 fest: „Bei den materiellen Regelungen versucht das BMI eine vom Bundesgesetzgeber noch gar nicht verabschiedete Vorschrift zur Videoüberwachung nach Wirksamwerden der DSGVO fortzuschreiben, mit welcher Sicherheitsbelangen der Vorrang vor dem Datenschutz eingeräumt wird und für die der nationale Gesetzgeber überhaupt keine Regelungsbefugnis hat.“ Gemeint ist damit der Entwurf eines Videoüberwachungs“verbesserungs“gesetzes, den Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am 02.11.2016 vorgelegt hat.
Der Deutsche Richterbund e. V. (DRB) hat dazu in einer Stellungnahme ausgeführt:
- „Der Entwurf für ein Videoüberwachungsverbesserungsgesetz begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken. Es erscheint fraglich, ob § 6b Abs. 1 Satz 2 BDSG-E einer Überprüfung am Maßstab des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung der jeweiligen Betroffenen standhält. Mit der geplanten Maßnahme werden ganz überwiegend Personen überwacht, die selbst keinen Anlass dafür geben. Das Vorhandensein einer Vielzahl von Videoüberwachungsanlagen führt zu einem diffusen Gefühl des permanenten Überwachtwerdens, was bereits einen Eingriff in grundrechtliche Belange der Betroffenen darstellt.
- Regelungen zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung gehören systematisch nicht in das Bundesdatenschutzgesetz.
- Für die Gewährung der öffentlichen Sicherheit und zur Gefahrenabwehr sollten keine privaten Stellen in die Pflicht genommen werden, es handelt sich um Kernaufgaben des Staates, die er zum Beispiel durch eine höhere Polizeipräsenz an Kriminalitätsschwerpunkten wahrzunehmen hat.“
Diese Kritik gilt inhaltlich auch für die vergleichbaren Regelungen im zweiten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).
Auch die 92. Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder hat – bei Enthaltung der Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit – den Gesetzentwurf für ein Videoüberwachungs“verbesserungs“gesetz einer vernichtenden Kritik unterzogen. Einige Auszüge aus der Stellungnahme:
- „Auch die mögliche Erhöhung eines faktisch ungerechtfertigten subjektiven Sicherheitsgefühls könnte Grundrechtseingriffe nicht rechtfertigen.“
- „Die unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder betonen mit Nachdruck, dass es nicht die Aufgabe privater Stellen ist, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Dies obliegt allein den Sicherheitsbehörden…“
Diese Kritik ist in vollem Umfang auch zutreffend für § 4 des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).
Aus Sicht der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main hat § 4 des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zwei weitere Mängel:
- Die von Videoüberwachung betroffenen Menschen können zwar bei den zuständigen Datenschutz-Aufsichtbehörden Beschwerden und Eingaben abgeben, es fehlt aber – insbesondere im Berreich privater Kamerabetreiber – an wirksamen Instrumentarien, um dem Grunde nach ungerechtfertigte und damit rechtswidrige Videoüberwachung zu sanktionieren (ggf. auch durch Verhängung eines Bußgeldes).
- Datenschutzwidriges Verhalten (z. B. fehlende Kennzeichnung von Videoüberwachungsanlagen) ist – obwohl in der DSGVO vorgesehen – in § 4 des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) nicht vorgesehen.