Kann der „Verfassungsschutz“ Demokratie und Grundrechte wirksam verteidigen? Oder ist er Teil des Problems? Notwendige Anmerkungen nach einer bundesweiten Razzia bei Reichsbürger*innen

Transparenz/ Dezember 16, 2022/ alle Beiträge, Hessische Landespolitik, Polizei und Geheimdienste (BRD), staatliche Überwachung / Vorratsdatenspeicherung/ 0Kommentare

Am 07.12.2022 wurden bundesweit Hausdurchsuchungen in mehr als 130 Wohnungen durchgeführt. 25 Personen wurden verhaftet, darunter der in Frankfurt/Main ansässige Adlige, der als Kopf der Verschwörer*innen geoutet wurde. Die verhafteten Personen kommen aus der sogenannten Reichsbürgerszene, der sich selbst so bezeichnenden „Querdenker“szene, der AfD, aber auch aus Kreisen der Polizei und der Bundeswehr. Neben großen Bargeldbeständen seien auch Waffen und eine sogenannte Feindesliste mit personenbezogenen Daten von Politiker*innen und Journalist*innen gefunden worden. So weit kurz zusammengefasst die allgemein bekannten Fakten.

Es scheint erwiesen: Hier wurde bewaffnete Rechtextreme aus dem Verkehr gezogen, die eine Gefahr für viele Menschen und für Demokratie und Freiheitsrechte in unserer Republik darstellen. Auch der Umstand, dass die Verschwörer*innen unterschiedliche, zum Teil krude Meinungen und Ideen vertreten, kann diese Einordnung nicht entkräften. Faschistisches Gedankengut zeichnete schon immer darin aus, dass es in der Lage war, verschiedene, auch widersprüchliche und esoterische Elemente einzubinden.

Die Bundesinnenministerin und die Spitzen von Polizei und „Verfassungsschutz“ heften sich die Aktion als Erfolg an ihre Fahnen. Der Berliner Tagesspiegel zitiert Erklärungen der Präsidenten des Bundesamts für „Verfassungsschutz“, Thomas Haldenwang, und des Präsidenten des Bundeskriminalamts, Holger Münch: Haldenwag betonte: ‚Die deutschen Sicherheitsbehörden insgesamt hatten die Lage jederzeit unter Kontrolle. Doch wenn es nach dieser Gruppe gegangen wäre, dann war diese Gefahr schon recht real.‘ BKA-Chef Münch sagte, man habe nicht bis zum letzten Moment warten, sondern genug Beweise sammeln wollen, dass es sich um eine terroristische Vereinigung handele…“

So notwendig und berechtigt, wie die Razzia im nachhinein erscheint, bleiben aber Fragen:

  • War die Razzia (auch) als Public-Relations-Aktion für Polizei und „Verfassungsschutz“ gedacht?
  • Oder warum waren Medienvertreter*innen bundesweit live bei Haussuchungen und Verhaftungen „vor Ort“?
  • Sollte damit auch das ramponierte Ansehen von Polizei und Geheimdiensten aufgebügelt und von ihrem mehrmaligen schwerwiegenden Versagen inden letzten Jahren abgelenkt werden?

Erinnern wir uns!

  1. An die Nazi-Terrorgruppe NSU,deren Verbrechen über 10 Jahre hinweg unter dem falschen und diskriminierenden Stichwort „Dönermorde“ von Polizei und Staatsanwaltschaften untersucht wurden,
  2. an Andreas Temme, Mitarbeiter des Hessischen Landesamts für „Verfassungsschutz“, zum Zeitpunkt des NSU-Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafé anwesend, der aber von seiner Behördenleitung und dem damaligen hessischen Innenminister Bouffier geschützt wurde,
  3. an den Thüringer Heimatschutz, eine NPD-nahe Neonazigruppe, die enge Verbindungen zum NSU hatte und in deren Reihen mehrere Dutzend V-Männer unterschiedlicher und konkurrierender bundesdeutscher Geheimdienste aktiv waren,
  4. an die Gruppe Nordkreuz, ein Netzwerk von Soldaten, Reservisten und Polizisten, die Lebensmittel, Waffen, Leichensäcke und Ätzkalk horteten, Munition bunkerten, die tw. aus Polizeibeständen gestohlen wurde und Feindeslisten von politischen Gegner*innen erstellt haben,
  5. an Anis Amri, der von diversen Polizei- und „Verfassungsschutz“-Behörden beobachtet wurde, aber trotzdem das Attentat am Berliner Breitscheidplatz durchführen konnte, bei dem 13 Personen getötet und weitere 67 zum Teil schwer verletzt wurden,
  6. an das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr, aus dessen Reihen in den letzten Jahren wiederholt rechtsradikale Aktivitäten, aber auch Unterschlagung von Waffen und Munition bekannt wurden;
  7. an rechtsradikale und neonazistische Aktivitäten bei der Polizei in Hessen und NRW.

Die Aufzählung könnte mit weiteren gleichgelagerten Beispielen ergänzt werden. Was aber bereits hier erkennbar wird:

  • Viel zu viele Angehörige der „Sicherheitsorgane“ in Deutschland – egal ob Polizei, Geheimdienste oder Bundeswehr – sind „offen nach rechtsaußen“, die Gefahr, die von diesem Personenkreis ausgeht, wird von eben diesen „Sicherheitsorgane“ aber in der Regel ignoriert oder bagatellisiert.
  • Zugleich werden im Bund und in den Ländern die sogenannten Sicherheitsgesetze regelmäßig verschärft und neue, die Grundrechte einschränkende Überwachungsmaßnahmen in Kraft gesetzt.
  • In mühsamen, tw. mehrere Jahre andauernden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof werden diese Überwachungsmaßnahmen häufig wieder kassiert, wie es zuletzt mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.04.2022 zum Bayrischen Verfassungsschutzgesetz geschah.
  • Spätestens seit den Morden des NSU wurde die Verstrickung der Geheimdienste in rechtsradikale Strukturen deutlich erkennbar.
  • Viel hat die Zivilgesellschaft, haben Journalist*innen und Antifa-Gruppen dafür getan, dass dies bekannt wird. Aber noch ist da viel zu tun. Gleiches gilt für Aktivitäten von Rechtsradikalen in der Polizei und der Bundeswehr.

Jetzt die Geheimdienste strukturell und personell auszubauen und ihnen neue Kompetenzen zu übertragen, wie es die Innenminister*innen des Bundes und der Länder beabsichtigen, ist der falsche Weg. Nein! – die Geheimdienste sind keine Lösung bei Angriffen auf Demokratie, Grund- und Freiheitsrechte, sie sind und bleiben ein zusätzliches Problem.

Die sogenannten „Verfassungsschutz“-Behörden gehören aufgelöst und abgeschafft!

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