Amtsgericht Reutlingen: Entscheidung zur (fehlenden) Rechtmäßigkeit eines Bodycameinsatzes der Polizei in einer Wohnung

CCTV-NeinDanke/ Oktober 20, 2021/ alle Beiträge, Polizei und Geheimdienste (BRD), Videoüberwachung/ 1Kommentare

Mit Beschluss vom 18.08.2021 (Aktenzeichen: 5 UR II 7/21 L) hat das Amtsgericht Reutlingen Stellung genommen zum Begehren der Polizei, in einem Strafverfahren Bodycam-Aufnahmen der eingesetzten Beamt*innen als Beweismittel zuzulassen.

Eingangs wird der Sachverhalt dargestellt: „Unter Datum 17.05.2021 sucht das Polizeipräsidium Reutlingen… nach um Zustimmung zur weiteren Verarbeitung von Bild- und Tonaufnahmen, die mittels des technischen Mittels Bodycam in der Wohnung des Betroffenen… hergestellt wurden… Zur Begründung wird verwiesen auf einen Vorkommnisbericht. Ein Mitbewohner des Betroffenen teilte der Polizei mit, der Betroffene würde ‚ausrasten“‘und habe ihn körperlich angegangen. Auf insgesamt neun Videoaufnahmen seien Beleidigungen, ein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und das Verhalten des Betroffenen nach der Gewahrsamnahme dokumentiert…“

Um dann bemerkenswerte Feststellungen zu treffen:

  • Jede weitere Verarbeitung und Verwendung der… vorgelegten Aufnahmen ist zu untersagen…
  • Zur Zeit des Beginns der Aufnahme… war eine dringende polizeiliche Gefahr für ein Schutzgut des § 44 PolG-BW nicht gegeben. Zudem wurde die Erstellung der Aufzeichnung nicht angekündigt, weswegen eine Schutzwirkung zur Gefahrenabwehr nicht angenommen werden konnte… Der Betroffene verhielt sich zwar unkooperativ und lustlos. Er hielt auch eine Zigarette in Händen. Eine brennende Zigarette mag zwar bei einem polizeilichen Einsatz eine Gefahr bedeuten. Nach Inaugenscheinnahme des Videos vermag der Richter jedoch eine dringende Gefahr für Leib und Leben der eingesetzten BeamtInnen nicht zu erkennen. Weder hat sich der Betroffene bedrohlich gezeigt, noch mit der glühenden Zigarette die Polizeibeamtin in irgendeiner Weise objektiv bedroht. Die Trunkenheit alleine rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme, der Betroffene werde mit der glühenden Zigarette auch Polizeibeamt*Innen gefährden.
  • Soweit in der Folgezeit Aufnahme erstellt sind… ist festzustellen… Strafbare Beleidigungen mögen die Öffentliche Sicherheit gefährden oder stören, rechtfertigen aber nicht den Einsatz des technischen Mittels Bodycam in einer Wohnung. Sie sind keine Gefahr für Leib oder Leben, wie die Ermächtigungsgrundlage dies voraussetzt. Die Ehre hingegen wird durch § 44 Abs. 5 Satz 2 PolG-BW nicht geschützt, soweit die Störung in einer Wohnung zu befürchten ist oder eintrat…
  • Die Rechtmäßigkeit des Einsatzes offener technischer Mittel zur Bild- und Tonaufzeichnung fehlt schon dann, wenn die Voraussetzungen des § 36 PolG nicht gegeben waren und eine Einwilligung aller Wohnungsberechtigten fehlt. Ist schon das polizeiliche Eindringen in die Wohnung nicht erlaubt, kann eine bei Gelegenheit des in diesem Falle rechtswidrigen Eindringens gefertigte Bild-Tonaufzeichnung nicht ihrerseits nicht isoliert rechtmäßig sein. Dem Einsatz des technischen Mittels fehlt dann der rechtmäßige tatsächliche Rahmen und Anlass…
  • Für den Fall, dass die Daten zu Zwecken der Strafverfolgung weiterverwendet werden sollen, erfolgt dies (spätestens) in dem Hauptverfahren vor dem Strafgericht…
  • Das Strafgericht mag dann, ausgehend von der Schwere der angeklagten Tat, im Blick auf die präventiv-polizeiliche Maßnahme, abwägend zu bedenken haben, dass ein Verwertungsverbot dort naheliegt, wenn die Maßnahme grob rechtswidrig oder evident rechtswidrig war…
  • Letzteres wird dann der Fall sein, wenn das technische Mittel Bodycam in einer Wohnung von Anfang an ‚unter der Legende der Gefahrenabwehr‘, aus Sicht eines verständigen Bürgers in der Lage des Betroffenen bei natürlicher Betrachtungsweise, mit alleine repressiver Zielsetzung eingesetzt wurde, weil auf Grund polizeilicher Vorerkenntnisse, wegen der fehlenden Möglichkeit einer Ankündigung und Androhung des Einsatzes des technischen Mittels zur Deeskalation oder nach Ankündigungen (oder Drohungen) des Betroffenen Straftaten unmittelbar sowieso zu erwarten waren. Gerade bei solchen Einsatzlagen kann der Einsatz einer Bodycam von vornherein nur ganz ausnahmsweise deeskalierend wirken, wobei für diese konkrete Eignung zur Gefahrenabwehr wiederum, vor Beginn der Aufzeichnung in einer Wohnung konkrete tatsächliche Anhaltspunkte bestehen müssen. Die sind zu dokumentieren…
  • Es ist… nicht ausgeschlossen, dass der Einsatz des technischen Mittels Bodycam, so der vom betrunkenen Betroffenen überhaupt wahrgenommen werden konnte, die Einsatzgefahr noch verschärft oder sogar erheblich erhöht hat. Nach den Mitteilungen im Antrag war der Betroffene ‚von Anfang an aggressiv und übergriffig‘…
  • Anzumerken ist, dass dem Gericht keine Studien bekannt sind, die die Wirksamkeit und die Folgen des Einsatzes des technischen Mittels Bodycam beim Umgang mit psychisch kranken Menschen oder Menschen im Zustande verminderter Schuldfähigkeit aus anderen Gründen untersuchen…
  • Die vorliegend festzustellende fehlende Eignung und die damit fehlende Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes im engeren Sinne und – daneben – die Unsicherheiten wegen der Trunkenheit des Betroffenen fügen sich zum derzeitigen Forschungsstand, wonach, obwohl bereits 2016 nahezu die Hälfte aller amerikanischen Polizeibehörden Bodycams einsetzen, Studien dort einen signifikanten Effekt weder bei den polizeilichen Maßnahmen, noch beim Verhalten von Bürgern feststellen konnten. Studien in Europa teilen die Befürchtung mit, entgegen der Erwartungen liege der Anteil der registrierten geschädigten PolizeibeamtInnen in den Schichten mit Bodycam über dem Anteil in den Schichten ohne Bodycam…“

 

1 Kommentar

  1. Hallo,

    in dem von Euch auszugsweise zitierten Urteil aus Reutlingen wird ganz am Ende auf eine Studie über die Wirkung von Bodycams im Polizeieinsatz aus NRW verwiesen.

    Unter dem Titel „Die deeskalierende Wirkung von Bodycams im Wachdienst der Polizei Nordrhein-Westfalen“ erschien diese Studie (https://www.hspv.nrw.de/fileadmin/user_upload/190429_Bodycam_NRW_Abschlussbericht.pdf) des Instituts für Polizei- und Kriminalwissenschaft der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW bereits 2019.

    Vier Fragestellungen (Seite 14) werden darin bearbeitet:

    1.
    Verursachen sichtbar getragene Bodycams eine deeskalative Wirkung auf Adressatinnen und Adressaten polizeilicher Maßnahmen? Welche weiteren oder unerwünschten Wirkungen lassen sich beobachten?

    2.
    Was beeinflusst die (deeskalative) Wirkung von Bodycams (z.B. Alkohol oder berauschende Substanzen)?

    3.
    Worauf ist die (deeskalative) Wirkung von Bodycams zurückzuführen?

    4.
    Inwieweit stößt die Bodycam auf Akzeptanz auf Seiten der Anwenderinnen und Anwender sowie der Bürgerinnen und Bürger? (Studie S. 14)

    Als Zentrale Ergebnisse werden in der Studie (Seiten 6 und 7) u. a. benannt:

    Entgegen der Erwartung liegt der Anteil der registrierten geschädigten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in den Schichten mit Bodycam über dem Anteil in den Schichten ohne Bodycam…

    Insbesondere Polizeibeamtinnen wurden im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen häufiger in Schichten mit Bodycam als geschädigte Person erfasst…

    Die Akzeptanz der Bodycam seitens der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ergab ein differenziertes Bild: zu jeweils gleichen Anteilen bewerteten die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten die Bodycam positiv, neutral bzw. negativ. Im zeitlichen Verlauf wurde ein Rückgang des Anteils derjenigen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten beobachtet, der die Bodycam positiv beurteilte…

    Hinsichtlich der Akzeptanz der Bodycam bei Bürgerinnen und Bürgern zeigte sich ein grundsätzlich positives Bild, wobei auch negative Äußerungen im Sinne von Misstrauen vor Missbrauch und Überwachung durch den Staat sowie Bedenken im Zusammenhang mit dem Datenschutz zu verzeichnen waren.

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