Digitale Daseinsvorsorge Nachhaltig Neu Denken – Anmerkungen und Nachfragen zu Frankfurts Digitalisierungsstrategie 2.0
Neue Besen kehren gut! – sagt zumindest der Volksmund. Und mit der neuen Koalition aus Grünen, SPD, FDP und Grünen scheint nun auch die Digitalisierungsstrategie der alten Römer-Koalition aus CDU, SPD und Grünen auf dem Prüfstand zu stehen. Das ist einem Antrag der Koalitionsfraktionen vom 08.11.2022 zu entnehmen, der in der Stadtverordnetenversammlung am 19.12.2022 zur Beratung und Beschlussfassung auf der Tagesordnung steht.
Mit dem 16 Seiten umfassenden Dokument soll der Magistrat beauftragt werden, „eine neue und integrierte Digitalisierungsstrategie der Stadt Frankfurt zu verfassen.“
Die „Vision“ der vier Koalitionsfraktionen: „Die Stadt Frankfurt will die Digitalisierung als Möglichkeit nutzen, um sozial, zukunftsorientiert, effizient und nachhaltig zu agieren und damit das Leben der Frankfurter*innen leichter und lebenswerter zu machen. Wir wollen verantwortungsbewusst Daten der Stadtgesellschaft und unserer Bürger*innen sammeln und verarbeiten, unsere Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) Verfahren und Digital Services entsprechend einer modernen Informations- und Wissensgesellschaft weiterentwickeln. Um unserer Daseinsfürsorge auch digital nachkommen zu können, wollen wir unsere Bürger*innen-Services barrierefrei und aus der Sicht und damit nahe an der Realität der Menschen in einer modernen IKT-Infrastruktur anbieten. Um ein datenbasiertes kommunales Management neu zu denken, fördern wir smarte Lösungen für mehr Transparenz, Datenschutz- und Sicherheit, soziale und ökologische Nachhaltigkeit.“ (Antrag S. 2)
In der Begründung des Antrags, die – gemessen am Antragstext – sehr kurz ist, wird es dann (je nach Lesart) lyrisch oder philosophisch: „Dieser Meta-Antrag der Koalition legt daher die Leitplanken für die Prozesse der nächsten Jahre fest, die auch über diese Wahlperiode Bestand haben soll und einen ersten ernst gemeinten Aufbruch in Richtung eines modernen, lebenswerten, datensouveränen, effizient gestalteten und nachhaltigen Frankfurts bedeutet. Ein Frankfurt für und nahe an seiner Stadtgesellschaft.“ (Antrag S. 15/16)
Stilblüten wie „Ziel der Stadt Frankfurt bei der Erhebung von Daten und im Umgang mit den personenbezogenen Daten ihrer Bürger*innen ist es, eine maximale Sicherheit personenbezogener Daten zu gewährleisten unter Einhaltung der aktuell gültigen Datenschutzgrundverordnung und IT-Richtlinien, nur so viele personenbezogene Daten wie nötig zu erheben…“ (Antrag S. 2) zieren den Text. Ja was denn sonst? – fragt sich der geneigte Leser. Gilt die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und das Hessische Datenschutz- und Informationsfreiheitsgesetz (HDSIG) in der Frankfurter Stadtverwaltung erst dann, wenn sich die Koalitionsparteien im Römer ausdrücklich dazu bekennen?
Und der Bezug auf ungelegte Eier darf auch nicht fehlen, wenn erklärt wird „…lassen wir uns von dem Gedanken leiten, gemäß unserer am 9. Dezember 2021 auf den Weg gebrachten Transparenz- und Informationsfreiheitssatzung (NR 193 /21), möglichst viele nicht-personenbezogene Daten öffentlich verfügbar zu machen. So können wir ein umfassendes Informationsrecht und Transparenz unter Wahrung von Datenschutz und Datensicherheit erreichen“ (Antrag S. 3). Das klingt, als könnten Frankfurter*innen und Nicht-Frankfurter*innen sich bereits auf eine kommunale Transparenzsatzung stützen, wenn sie Auskünfte von der Stadtverwaltung einfordern wollen. Tatsächlich ist dies nicht der Fall. Nach dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung am 09.12.2021 gilt: Still ruht der See! Der Magistrat hat es nicht vermocht, immerhalb eines Jahres den Stadtverordneten den Entwurf eine Informationsfreiheits- bzw. Transparenzsatzung zur Beschlussfassung vorzulegen.
Einiges von dem, was im Antrag als Arbeitsvorhaben benannt wird, ist richtig, tw. ist es überfällig. Aber das steht in der Gefahr unterzugehen in einem nahezu unendlichen Wortgeklingel mit einer Vielzahl d-englischer Begrifflichkeiten und Sätzen wie
- „Um unserer Daseinsfürsorge auch digital nachkommen zu können, wollen wir unsere Bürger*innen-Services barrierefrei und aus der Sicht und damit nahe an der Realität der Menschen in einer modernen IKT-Infrastruktur anbieten.“ (Antrag S. 2)
- „Die entwickelten Angebote und Dienstleistungen müssen zukunftsorientiert, sozial, nachhaltig, ressourcenschonend, wertvoll für die Stadtgesellschaft, sicher, partizipativ, barrierefrei und effizient sein.“ (Antrag S. 3)
- „Auch die Erarbeitung der integrierten Digitalisierungsstrategie soll anschließend von einem breiten und transparenten Beteiligungsprozess begleitet werden, damit sie von der breiten Öffentlichkeit getragen und nachgebessert wird…“ (Antrag S. 4)
- „Ein verantwortungsvoller Umgang mit Daten, bei Sicherheit und Datenschutz, hat allerdings immer höchste Priorität und wird mit einer Stärkung der Datenkompetenz der Mitarbeitenden erreicht.“ (Antrag S. 7)
- „…wollen wir single-sign-on-Lösungen und public-key-infrastructures schaffen, die alle Input- und Output-Prozesse über eine Plattform innerhalb, aber auch zwischen Verwaltung und Stadtgesellschaft lösen. Eine App-Strategie wird dabei nachgeordnet auch mitgedacht, um künftig auch die Plattform-Services via App anbieten zu können“ (Antrag S. 8)
- „…soll in der Verwaltung, beispielsweise, ein gemeinsamer Digitalisierungs-Kodex und Ethik-Kodex mit allen Stakeholdern erarbeitet werden und ein Kulturprozess mithilfe von internen Projekten zum SHEILA Framework angestoßen werden…“ (Antrag S. 8)
- „Wir wollen künftig mehr IKT-Entrepreneure und Start-Ups für innovative, kreative und nachhaltige und gemeinwohlorientierte IKT-Lösungen in Frankfurt ansiedeln…“ (Antrag S. 11)
Nur an einer einzigen Stelle geht der Antrag auf das Thema
Recht auf ein analoges Leben
ein, wenn unter „6) Barrierefreiheit“ erklärt wird: „Wir wollen Zugang, Teilhabe und Demokratie in Frankfurt dadurch stärken, dass wir alle unsere digitalen Angebote diskriminierungsfrei, barrierefrei, gleichberechtigt und gleichgestellt anbieten. Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche, sie sollte daher in Frankfurt auch für alle Lebens modelle gleichwertig lebenswert gestaltet werden. Letztendlich bedeutet das, Angebote zu ermöglichen für Menschen, die manche Lebensbereiche nur analog gestalten können„ (Antrag S. 5). Was hier spraclich etwas verquast daherkommt berührt ein Problem, das nicht nur in Dänemark, sondern auch im Frankfurt eine nennenswerte Minderheit der Bevölkerung tangiert: Der aus unterschiedlichsten Gründen nicht vorhandene Zugang zu digital vorgehaltenen Informationen, Kommunikationswegen und Behördenkontakten.
Wie eine Zwangsdigitalisierung in allen Lebensbereichen – insbesondere im Kontakt mit staatlichen Stellen – nachteilig für die Betroffenen wirken kan, darauf machen zwei Beiträge in der Frankfurter Rundschau vom 30.09.2022 aufmerksam.
- Thomas Borchert, ein in Kopenhagen lebender deutscher Journalist, schildert in einem Beitrag unter dem Titel „Alles nur noch online in Dänemark“ seine Alltagserfahrungen: “Wir müssen einen elektronischen Briefkasten namens ‚Eboks‘ unterhalten, sind gesetzlich verpflichtet, ihn in kurzen Abständen zu checken und unsere Anliegen stets digital in die andere Richtung zu schicken… Es gibt keine Sachbearbeiter:innen mit Namen und schon gar kein Gesicht für uns. Persönliche Kontakte sind nicht mehr vorgesehen. Zur Not kann man eine Hotline anrufen… Klar, dass davor unendlich viele kapitulieren und sich hilfesuchend an den total überlaufenen ‚Bürgerservice‘ wenden. Terminbestellung natürlich online. Will jemand auf analogem Kontakt mit den Behörden bestehen, ist ein Antrag auf Anerkennung als ‚IT-Invalide‘ zu stellen. Als anerkennenswerte Gründe gelten etwa Demenz, Obdachlosigkeit, Sprachprobleme, ‚fehlende Kompetenz zur Bedienung eines Computers‘. Die Befreiung vom digitalen Zwang im Behördenverkehr ändert nichts daran, dass etwa die Banken gnadenlos auf Online-Verkehr pochen.“
- In einem Interview mit dem Titel „Der digitale Expresszug wirft zu viele Menschen ab“ beantwortet die dänische Wissenschaftlerin Birgitte Arent Eiriksson die Frage „Sie schätzen, dass in diesem Prozess 20 bis 25 Prozent der Menschen abgehängt werden. Woher kommt diese hohe Zahl?“ mit der Feststellung: „Sie basierten auf offiziellen Schätzungen mit 17 bis 22 Prozent. Aber da haben sie die Dunkelziffer mit den am stärksten Betroffenen vergessen. Das sind diejenigen, die noch nicht mal wissen, dass der Staat sie zu einem elektronischen Briefkasten verpflichtet hat. Die Gruppe ist identisch mit den generell sozial Schwächsten in der Gesellschaft. Diese Menschen haben keinen Kontakt mit Behörden und ahnen nicht, dass ihnen zum Beispiel z.B. gerade ein Strafbescheid zugestellt worden ist.“ Und weiter: „Es gilt nach wie vor das Mantra, das die Digitalisierung so schnell wie möglich weitergehen muss. Man hält nicht inne, um die gemachten Erfahrungen auszuwerten. Dabei haben meine Untersuchungen und die vielen jüngsten Berichte Betroffener in der Zeitung Politiken gezeigt, dass eigentlich viel mehr als die 25 Prozent digital Abgehängten mitunter enorme Probleme haben. Mich eingeschlossen… Meine wichtigste Empfehlung lautet: Digitale Selbstbedienung und der digitale Postverkehr mit Behörden müssen freiwillig sein.“
Der Essener Rechtsanwalt Dr. Bernd Lorenz, Fachanwalt für IT-Recht und betrieblicher Datenschutzbeauftragter kommt in einem Aufsatz in einer juristischen Fachzeitschrift (MMR 2022, S. 935 ff.) unter dem Titel „Das Recht auf ein analoges Leben – Anerkennung eines neuen Grundrechts“ zum Ergebnis:
„Das Recht auf ein analoges Leben gibt ein Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben, ohne das Internet selber benutzen zu müssen. Insofern ist es ein Abwehrrecht gegen Verpflichtungen, das Internet selber benutzen zu müssen, um eine Dienstleistung in Anspruch nehmen zu können.“
Dies sollten die Stadtverordneten bei ihrer Beratung und Beschlussfassung über den Antrag von Grünen, SPD, FDP und Volt bedenken, aber auch der Magistrat bei der Umsetzung seiner Ziele bei der Digitalisierung der Prozesse innerhalb der Verwaltung und im Kontakt mit den Bürger*innen.
Schon bezeichnend wenn viele Plattitüden veröffentlicht werden und man noch nicht einmal auf dem Sender hat, dass ein zitiertes Recht (Informationsfreiheit), im Politprozess hängenblieb oder einfach vergessen worden ist.
Wer spricht da in den städtischen Prozessen nicht mit den anderen Beteiligten oder was soll bei diesem Kirchturmdenken in einzelnen Ressorts denn für den Bürger noch rauskommen?