Die „Charta der digitalen Vernetzung“ – ein Angriff auf die informationelle Selbstbestimmung
Verwundert reiben wir uns die Augen. Ein paar Unternehmen haben sich zusammengetan, um eine „Charta“ der Vernetzung ins WWW zu stellen.
Eine Charta? War da nicht mal was? Wikipedia klärt uns auf: „Mit Charta (…) bezeichnet man die für das Staats- und Völkerrecht grundlegenden Urkunden.“
Aha. Maßen sich diese Unternehmen an, völkerrechtliche Verlautbarungen zu erlassen? Wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir längst die Zeiten des Primats der Politik verlassen haben und im Zeitalter des Primats der Wirtschaft angelangt sind, kann man nachvollziehen, dass sich der Begriff für die hinter der „Charta“ stehenden Unternehmen durchaus richtig anfühlt, so deplatziert er auch sein mag.
Aber wir wollen uns mit der „Charta“ inhaltlich auseinandersetzen. Zu ihrer Herkunft finden wir folgende Aussage auf der Website: „Die Charta der digitalen Vernetzung ist eine Unternehmens-Initiative, hervorgegangen aus dem Nationalen IT-Gipfel und gegründet von Mitgliedern der Fokusgruppe „Intelligente Vernetzung“. Als übergeordnete Initiative verkörpert die Charta eine positive Grundhaltung zu den Themen der digitalen Vernetzung. Die Charta kooperiert sowohl themen- als auch aktionsbezogen partnerschaftlich mit anderen Initiativen. Sie prämiert gute Beispiele digitaler Vernetzung und zeigt durch ihre Experten aus den Unternehmen Handlungsbedarfe auf.“
Klingt ja schön. Könnte es aber sein, dass hier wieder Neusprech am Werk ist, und ganz andere Inhalte hinter diesen Worten lauern, als der unbedarfte Leser zunächst ahnt? In der Tat, wenn man die „Die Charta im Wortlaut“ konsultiert, wird vieles schon klarer. In bewährter Sandwichmanier („packe den zu schluckenden Frosch zwischen zwei geschmacklose Scheiben Toastbrot, dann geht er schon runter“) steht mitten drin das eigentliche Geschwür. Der Punkt 5 (Daten) lautet: „Wir wollen die aus der digitalen Vernetzung generierte große Menge und Vielfalt an Daten im Sinne von Chancen und Nutzen für unsere Gesellschaft und für das Individuum stärker nutzbar machen. Wir verstehen es als gemeinsame Aufgabe von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, hierfür einen geeigneten Rahmen zu setzen.“ Übersetzt heißt das: Wir stehen zusammen und wissen uns höchster politische Rückendeckung sicher, um alles aus dem Weg zu schaffen, was der Verwertung der durch unser Leben anfallenden Berge an personenbezogenen Daten entgegen steht. So haben wir laut Pressemitteilung sogar das politische Schwergewicht Sigmar Gabriel als Schirmherren gewinnen können und Angela Merkel lässt sowieso keine Gelegenheit mehr aus, uns zu erklären, dass Datenschutz ja so was von vorgestern ist.
Auch Punkt 4 (Verantwortung) ist interessant: „Wir sind uns der Verpflichtung bewusst, mit personenbezogenen Daten und Informationen datenschutzgerecht und sicher umzugehen. Dies gewährleisten wir durch effektive technische und organisatorische Maßnahmen zum Schutz vor unberechtigtem Zugriff und missbräuchlicher Verwendung. Wir sehen ein einheitliches europäisches Datenschutzrecht als wichtige Rahmenbedingung. Eine weitere internationale Harmonisierung rechtlicher Grundlagen muss zügig angegangen werden.“ Wenn sich jemand anmaßt, den Begriff „Charta“ so sehr zu vereinnahmen, dass er mit dem allgemeinen Verständnis dieses Begriffs nur noch die Schreibweise gemeinsam hat, dann darf davon ausgegangen werden, dass der unbedarfte Leser Begriffe wie „unberechtigter Zugriff“, „missbräuchliche Verwendung“ und „Harmonisierung rechtlicher Grundlagen“ auf seine ganz eigene Weise versteht. Ich will eine Übersetzung versuchen: „Unberechtigter Zugriff“ heißt Zugriff durch jemand anderen als uns, einschließlich der Person, zu der die Daten Bezug haben. „Missbräuchliche Verwendung“ ist wohl dann gegeben, wenn jemand anderes als wir Profit aus diesen Daten schlägt und „Harmonisierung rechtlicher Grundlagen“ heißt Beseitigung von Schutzrechten der Bürger damit wir endlich freie Fahrt auf der Datenautobahn haben.
Man darf sich auch nicht täuschen, um welche Daten es geht. Angela Merkel hat dies in einem Podcast im Vorfeld der Cebit klar benannt. Es geht um „Industrie, den gesamten Mobilitätsbereich und auch den Gesundheitsbereich und den Energiebereich“. Wir meinen, all diese Daten verdienen mehr Schutz vor kommerziellen Interessen und nicht weniger. Aber welche Zeiten sind angebrochen, wenn die datenverarbeitenden Wölfe sich mit einer „Charta“ einen Schafspelz verpassen und zusammen mit den politischen Schwergewichten Sturm gegen die Interessen der Bürger laufen?
Links:
http://charta-digitale-vernetzung.de/