Auch das ist Informationsfreiheit: Vollständiges Einsichtsrecht in Behördenakten durch Richter und Rechtsanwalt
Mit Beschluss vom 03.09.2021 (Aktenzeichen: 6 L 582/21.WI.A) hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden am 03.09.2021 in den Leitsätzen der Entscheidung festgestellt: „Es ist fraglich, ob ein faires (Asyl-) Verfahren gewährleistet wird, wenn ein vollständiger Zugang zu der vollständigen elektronischen Behördenakte nicht so gewährt wird, wie dieser den Beschäftigten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge möglich ist, nicht aber dem Gericht oder einem Rechtsanwalt.“
Das Gericht hat entschieden, dass das Verfahren ausgesetzt wird und zugleich ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europ. Gerichtshof (EuGH) gerichtet. Zwei der ingesamt vier Fragen an den EuGH lauten:
- „Folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 GrCh, dass die von der Behörde im Rahmen einer Akteneinsicht oder einer gerichtlichen Kontrolle vorzulegende Behördenakte – auch in elektronischer Form – so vorgelegt wird, dass diese vollständig und durchpaginiert ist und damit Änderungen nachvollziehbar sind.
- Stehen Art. 23 Abs. 1, Art. 46 Abs. 1-3 RICHTLINIE 2013/32/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes… einer nationalen Verwaltungspraxis entgegen, nach der die Behörde dem Rechtsvertreter des Asylsuchenden und dem Gericht regelmäßig lediglich einen Auszug aus einem elektronischen Dokumentenmanagementsystem vorlegen, der eine unvollständige, unstrukturierte und nicht chronologische Ansammlung von elektronischen PDF-Dateien enthält, ohne dass diese über eine Struktur und einen chronologischen Geschehensablauf verfügen, geschweige denn den vollständigen Inhalt der elektronischen Akte wiedergeben.“
Eine Klatsche vom Feinsten für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Das Verwaltungsgericht Wiesbaden deckt damit eine Verwaltungspraxis des BAMF auf, die rechtstaatliche Maßstäbe vermissen lässt. In der Urteilsbegründung (Ab Abs. 67) wird dies umfangreich ausgeführt:
- „Das Bundesamt für Migration führt seit über 15 Jahren eine sogenannte elektronische Bundesamtsakte (inwieweit diese datenschutzkonform ist, bedarf einer weitergehenden Prüfung… ). In diese elektronische Akte werden alle Unterlagen (…) eingescannt und die eingescannten Unterlagen in der Regel anschließend vernichtet… Eine Ausnahme bilden derzeit Zustellungsurkunden, welche im Original aufbewahrt werden.“ (Abs. 67)
- „Dabei wird mit einer ‚Postkorbvariante‘ gearbeitet. Das heißt, wenn ein Sachbearbeiter einen elektronisch zur Verfügung stehendendes neues Dokument elektronisch bearbeitet hat, wird dieses erst danach in die elektronische Akte eingepflegt. Dies allerdings dergestalt, dass es nicht dem bisherigen Bestand ‚nachgeheftet‘ wird, sondern an irgendeiner Stelle nach den EDV-Vorgaben eingepflegt wird. Damit ist die sog. elektronische Akte ggf. ständigen Veränderungen ausgesetzt. Daneben bestanden früher eine sog. Dokumentenmappen, in denen Originale, wie die unterschriebene Anhörung, die unterschriebene Entscheidung (der Bescheid), aber auch ggf. originale ausländische Entscheidungen aufbewahrt wurden. Mit Hausverfügung vom 01.09.2016 hat die Amtsleitung des Bundesamtes entschieden, die Dokumentenmappen abzuschaffen…“ (Abs. 68)
- „Bei einem Asylverfahren vor Gericht… ist die Behörde… zur Vorlage von Urkunden oder Akten, zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet. Dem kam bisher das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dergestalt nach, dass ein Ausdruck mit dem Inhalt des elektronischen Dokumentenmanagementsystems ‚Maris‘ als ein einziges PDF-Dokument erstellt wurde und dieser Ausdruck eine durchgehende Nummerierung (Paginierung) der ‚Seiten‘ enthielt. Wurde die Akte zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein zweites Mal angefordert, konnte es passieren, dass die Nummerierung nicht mehr identisch war, da noch über das ‚Postkorbverfahren‘ weitere Unterlagen an irgendeiner Stelle dazu kamen..“ (Abs. 69) .
- „Der ausgedruckte Teil der Akte, der dem Gericht übersandt wurde, umfasst dabei nicht den gesamten elektronisch vorgehaltenen Akteninhalt, weil die elektronische Akte in dem Verfahren Maris umfangreichere Funktionen beinhaltet und damit dem Bearbeiter beim Bundesamt noch zusätzliche Informationen zur Verfügung stehen, wie zum Beispiel die Zugriffe, die Historie, Verknüpfung zu anderen Verfahren des Asylsuchenden, auch zu Verwandtschaftsmitgliedern. Nach den internen Vorgaben des Bundesamtes, werden lediglich die sog. ‚PDF-Dokumente‘ herausgegeben. Zugriffe werden zwar von dem System protokolliert und sollen zugleich die Freigabe, z.B. für die Auswertung von Datenträgern nach § 15a AsylG dokumentieren, werden aber mit den PDF-Dokumenten nicht vorgelegt.“ (Abs. 71)
- „… Damit ist für den Rechtsanwalt diese sogenannte elektronische Akte nicht ohne Hindernisse zugänglich und nur – wie auch dem Gericht – das, was als einzelne PDF’s erstellt wurde. Eine Durchnummerierung/-paginierung besteht nirgends mehr.“ (Abs. 74)
- „Das vorlegende Gericht hält die Beschwerde des Rechtsanwaltes für berechtigt und legt wegen grundsätzlicher Bedeutung der sich daraus ergebenden Fragen diese dem EuGH vor, da sie einheitlich gegenüber einer deutschlandweit tätigen Behörde, aber auch für die Justizverwaltungen aller Bundesländer einheitlich zu klären sind…“ (Abs. 78)
Eine Entscheidung, die – mittelbar – auch für Menschen Bedeutung erlangen kann, die bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) oder den Jobcentern in gemeinsamer Trägerschaft von BA und kommunalen Trägern Leistungen nach SGB III (Alg I) oder nach SGB II (Alg II / „Hartz IV“) beantragen. Die BA hat für ihren Verantwortungsbereich verbindlich die Einführung einer elektronischen Behördenakte beschlossen. Und ob die Richtlinien der BA für die elektronische Behördenakte rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen, hat nach Kenntnis des Verfassers bisher kein Sozialgericht in Deutschland geprüft.
Mir ist es schleierhaft und völlig unverständlich, dass immer wieder Gerichte bemüht werden müssen, damit die sog. „Waffengleichheit“ herbeigeführt wird, um seine grukndgesetzlich geschützten Rechte überhaupt wahrzunehmen.
Der Gesetzgeber ist hierzu aufgefordert, noch mehr Klarheit zu schaffen und auch Sanktionen gegen die Rechtsverweigerer festzuzlegen, sonst ändert sich nämlich nichts, das weiß ich schon seit Jahrzehnten.
Im ersten Kommentar waren 2 Grammatikfehler und ein „nicht fehlten. Ich bitte daher um Veröffentlichung der nachfolgenden Korrektur:
Sehr schönes Urteil! Leider fehlt der Hinweis, daß dies auch bisher bereits so war, d.h. es wurden und werden von vielen Behörden und Gerichten unvollständige, unpaginierte, chronologisch nicht geordnete Akten vorgelegt, bei denen teilweise ein Drittel aus einer Loseblattsammlung bestanden hat und besteht. Von den Gerichten wird dabei im Falle der Aufdeckung offensichtlicher Lügen des Amtes, die Akteneinsicht extrem lange hinausgezögert (bis zu einem halben Jahr), damit das Amt in der Lage ist, die Akte zu „bereinigen“. Dies habe ich seit 15 Jahren vor dem Sozial- und Landessozialgericht in Mainz in ca. 100 Rechtsstreitigkeiten mit dem Sozialamt der Stadt Mainz erlebt. Rügen wurden seitens des Gerichts stets ignoriert. Beim Auswärtigen Amt respektive der Deutschen Botschaft in Rabat (Marokko) ist die Hälfte meiner Akte verschwunden und eine Vorlage bzw. Einsichtnahme in diesselbe nach dem IFG wurde vom VG und OVG Berlin abgelehnt, weil dort vermutlich kriminelle Aktivitäten der Deutschen Botschaft in Rabat dokumentiert waren, die nicht ans Tageslicht kommen sollten. Das IFG ist daher wertlos und es ist erstaunlich, daß das VG Wiesbaden dem Kläger hier mehr Rechte zubilligen möchte und die Rechtsfrage dem EuGH vorgelegt hat.
Die aus dem Deutschen Reich stammende preußische Aktenordnung, die ja noch heute gilt, ist da doch deutlich besser, da diese nämlich die vorgenannten Praktiken untersagt. In der preußischen Aktenordnung steht klipp und klar, daß die gesamte Akte paginiert und chronologisch geordnet zu sein hat. Leider wird die Aktenordnung heute auch von den Gerichten meist vollständig ignoriert. Ich hätte es gerne mit preußisch arbeitenden Ämtern und Gerichten zu tun, als mit den heutigen Schluder- und Schlamper- Behörden und Gerichten. Eine preußische Dienstbeflissenheit ist in den heutigen Ämtern und Gerichten eine statistische Rarität und die absolute Ausnahme.