AOK Nordost fordert schnelle Verabschiedung eines Gesundheitsdatennutzungsgesetzes und eine umfassende Nutzung von Gesundheitsdaten – auch gegen den Widerstand der betroffenen Patient*innen
In Ihrem Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 haben SPD, Grüne und FDP im Abschnitt „Digitalisierung des Gesundheitswesens“ (Koalitionsvertrag S. 65) u. a. folgendes als Ziele formuliert:
- „Wir beschleunigen die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des E-Rezeptes sowie deren nutzenbringende Anwendung und binden beschleunigt sämtliche Akteure an die Telematikinfrastruktur an.
- Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out).
- Die gematik bauen wir zu einer digitalen Gesundheitsagentur aus.
- Zudem bringen wir ein Registergesetz und ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung in Einklang mit der DSGVO auf den Weg und bauen eine dezentrale Forschungsdateninfrastruktur auf.“
Alleine die Begrifflichkeit Gesundheitsdatennutzungsgesetz hat bei Unternehmen, Interessenverbänden und Forschungseinrichtungen die Begehrlichkeiten, auf Gesundheits- und Behandlungsdaten aller Menschen in Deutschland zugreifen zu können, ins Unermessliche gesteigert. Da wollte auch die AOK Nordost nicht hinan stehen.
In einem Positionspapier ihres Wissenschaftlichen Beirates für Digitale Transformation unter dem Titel „Gesundheitsdatennutzung: jetzt!“ wird u. a. rklärt: „Die gegenüber verstärkter Gesundheitsdatennutzung geäußerten Bedenken und Sorgen greifen zu kurz: Die Vorteile sind herausragend und überwiegen etwaige Risiken deutlich. Den berechtigten Interessen zur Wahrung der Intimsphäre und der Persönlichkeitsrechte kann durch entsprechende Gestaltung der Datenverarbeitung, etwa durch Anonymisierung, Verschlüsselung und strenge Datenzugriffskonzepte Rechnung getragen werden.“
Was hier – scheinbar harmlos – daherkommt, liest sich im einem Interview mit dem Geschäftsführer des Beirats, Prof. Dirk Heckmann (u. a. netzpolitischer Berater der CSU) schon bedrohlicher: „Tatsächlich werden seit Jahren immer wieder Bedenken geäußert, Gesundheitsdaten, die ja sehr sensible Daten sind, in einem größeren Umfang zu nutzen. Immer wieder wird auch der Datenschutz ins Spiel gebracht. Diese Bedenken können jedoch ausgeräumt werden. Natürlich geht es in erster Linie um Patienten-Souveränität und um informationelle Selbstbestimmung. Die kann aber gewährleistet werden, beispielsweise auch durch die Einführung sogenannter Patienten-Datencockpits. Datencockpits werden von der Bundesregierung ja favorisiert im Verwaltungsbereich, wo Bürgerinnen und Bürger sehen sollen, wer auf ihre Daten beispielsweise im Rahmen des eGovernment zugreift. Warum sollte man das nicht auch im Gesundheitswesen nutzbar machen? Das heißt, dass man den Patientinnen und Patienten ein Datencockpit zur Verfügung stellt, in dem sie genau sehen können, wer wann auf welche Gesundheitsdaten zugegriffen hat und welcher Grund dafür angegeben wurde. Auf die Art und Weise habe ich ein größeres Vertrauen in die Datenflüsse, kann das auch ein stückweit beherrschen und auch dagegen steuern. Und das würde viele Bedenken dann abschwächen oder sogar ganz ausräumen. Mit solchen Technologien können wir endlich dazu kommen, was wir schon lange brauchen, nämlich eine umfassende Nutzung von Gesundheitsdaten.“
Was Prof. Heckmann vorschwebt, ist das Gegenteil von informationeller Selbstbestimmung, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem „Volkszählungsurteil“ vom 15.12.1983 postuliert hat: „Individuelle Selbstbestimmung setzt aber – auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien – voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß… Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“ (BverfG, Urteil vom 15.12.1983, Randnummern 146 – 147).
Wer nur im Nachhinein feststellen kann, „wer wann auf welche Gesundheitsdaten zugegriffen hat und welcher Grund dafür angegeben wurde“ hat, ist bereits Opfer des Datenhungers von Krankenkassen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen geworden. Und wer die Datenflüsse nur noch „ein stückweit beherrschen“ kann, kann zwar immer noch dem Traum von der „digitalen Souveränität“ träumen, das Grundrecht auf informationelle Seelbstbestimmung ist dann aber verloren.
Dies gilt es zu verhindern!
Konnektoraustausch in Arztpraxen: 300-Millionen-Grab ohne stichhaltige Gründe
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15.07.2022 07:00 Uhr
c’t Magazin
Von Lorenz Schönberg Thomas Maus
https://www.heise.de/hintergrund/Konnektoraustausch-in-Arztpraxen-300-Millionen-Grab-ohne-stichhaltige-Gruende-7168522.html