Elektronische Gesundheitskarte unter Beobachtung
Anmerkung zum Urteil des Landessozialgerichtes Stuttgart vom 21.6.2016
Das Landessozialgericht (LSG) verneint in diesem Urteil einen Anspruch auf eine zur Krankenversichertenkarte (propagandistisch „Gesundheitskarte“ genannt) alternative Form des Versichertennachweises.
Dabei macht das Gericht ein paar erwähnenswerte Feststellungen, die der Beachtung verdienen.
- Das LSG stellt fest, was uns in der Zukunft noch länger beschäftigen wird. Nach § 291 Abs. 3 Satz 1 SGB V muss die eGK geeignet sein, folgende Anwendungen zu unterstützen, insbesondere das Erheben, Verarbeiten und Nutzen von
(1.) medizinischen Daten, soweit sie für die Notfallversorgung erforderlich sind,
(2.) Befunden, Diagnosen, Therapieempfehlungen sowie Behandlungsberichten in elektronischer und maschinell verwertbarer Form für eine einrichtungsübergreifende, fallbezogene Kooperation (elektronischer Arztbrief),
(3.) Daten zur Prüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit,
(4.) Daten über Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Behandlungsberichte sowie Impfungen für eine fall- und einrichtungsübergreifende Dokumentation über den Patienten (elektronische Patientenakte),
(5.) durch von Versicherten selbst oder für sie zur Verfügung gestellte Daten,
(6.) Daten über in Anspruch genommene Leistungen und deren vorläufige Kosten für die Versicherten (§ 305 Abs 2),
(7.) Erklärungen der Versicherten zur Organ- und Gewebespende,
(8.) Hinweisen der Versicherten auf das Vorhandensein und den Aufbewahrungsort von Erklärungen zur Organ- und Gewebespende sowie
(9.) Hinweisen der Versicherten auf das Vorhandensein und den Aufbewahrungsort von Vorsorgevollmachten oder Patientenverfügungen nach § 1901a des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Selbst das LSG sollte erkennen, dass diese lange Liste für den ein oder anderen als bedrohlich wirken mag. Dafür weist es aber darauf hin, dass all diese ergänzenden Anwendungen unter dem Vorbehalt der vorherigen Einwilligung durch den Betroffenen liegen. Dies ist bedeutsam, weil zu erwarten ist, dass der Gesetzgeber in einer Art Salamitaktik eine Anwendung nach der anderen zur gesetzlichen Pflicht machen wird. Jetzt sieht das LSG noch keinen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Versicherten, weil sie jetzt noch Nein sagen können. Es wird dies voraussichtlich anders sehen, wenn diese Wahl entfallen wird.
- Auch ist das LSG irritiert über die Befugnis der Krankenkassen den „Versichertenstatus“ zu speichern und zu verarbeiten. Es handelt sich hierbei um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Eine Ermächtigung zu einer eigenständigen erweiterten Auslegung durch die Krankenkassen (oder einem etwaigen öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen Verbänden) sieht es nicht. Die Aufzählung in § 291 Abs. 2 S 1 Nr. 7 SGB V sieht das Gericht als abschließend und es fühlt sich genötigt, hierauf ausdrücklich hinzuweisen.
- Das Gericht stellt ferner fest: „Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmungsrecht aus Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG, welcher in der Pflicht zur Angabe bzw. zur Verfügungstellung von Lichtbild und Unterschriftsleistung […] nach §§ 291 Abs. 2, 291a Abs. 2 S 1 SGB V zu sehen ist, ist gerechtfertigt.“
Zunächst ist anzumerken, dass die Unterschrift weder angegeben noch zur Verfügung gestellt werden muss. Wie bei der alten Versichertenkarte muss sie nach Ausstellung und Zusendung lediglich auf der Karte vom Versicherten aufgebracht werden. Das Gericht sollte also in die gesetzlichen Pflichten des Versicherten nicht mehr hineinlesen, als das Gesetz selbst. Das Gleiche gilt natürlich auch für das Foto. An keiner Stelle des Gesetzes ist eine Pflicht formuliert, der Versicherung ein Foto zur Verfügung zu stellen. Es genügt auch hier, dass der Versicherte selbst dieses auf der Karte nach Ausstellung und Zusendung aufbringt. Die Identifikationsfunktion des Versicherten, die das LSG ausdrücklich an anderer Stelle anerkennt, wird durch ein selbst aufgebrachtes Foto nicht eingeschränkt. Die derzeitig entgegenstehende Praxis für 100.000e Versicherte, denen die Ausstellung einer Versichertenkarte verweigert wird, ist daher rechtswidrig.
Außerdem mutet es etwas seltsam an, wenn das Gericht nicht zur Kenntnis nimmt, dass das Bild auf der Versichertenkarte (auch schon auf der alten) laut der gleichen gesetzlichen Anforderung seit 2006 hätte angebracht sein müssen, aber bis 2014 nie, nicht in einem Fall, angebracht war. Wie soll rechtstreue vom Versicherten verlangt werden, wenn die Krankenkassen gesetzliche Pflichten über einen Zeitraum von 9 Jahren schlichtweg ignorieren. Weiterhin kann vor diesem Hintergrund die gesetzliche Pflicht zu einem Bild auf der Versichertenkarte so bedeutsam nicht sein. Es ist sehr bedauerlich, dass das Landessozialgericht diesen Punkt in seine Ermessenabwägung nicht einbezieht.
von Roland Schäfer